Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Äthiopien
Äthiopien Fläche: 1 130 139 km2
Einwohner: (1995) 55,05 Mio.
Hauptstadt: Addis Abeba
Verwaltungsgliederung: 9 Regionen, Hauptstadt mit Sonderstatus
Amtssprache: Amharisch
Nationalfeiertag: 12. 9.
Währung: 1 Birr (Br) = 100 Cents (ct.)
Zeitzone: MEZ + 2 Std.
(amhar. Ityopia), Binnenstaat in NO-Afrika, grenzt im NO an Eritrea, im O und SO an Djibouti und Somalia, im S an Kenia und im W an die Rep. Sudan.
Staat und Recht: Nach der Verfassung vom 7. 5. 1995 ist Ä. eine parlamentar. Rep. mit bundesstaatl. Ordnung; den versch. ethn. Gruppen wird weitgehende Autonomie gewährt. Die neu gebildeten Regionen haben das Recht auf Sezession. Staatsoberhaupt ist der vom Parlament ernannte Präs.; die Exekutive liegt beim MinPräs., die Legislative auf Bundesebene bei der Nationalversammlung (Shengo; 548 Abg.). Die neun Regionen haben eigene gewählte Legislativ- und Exekutivorgane.
Landesnatur: Ä. ist das höchstgelegene Land Afrikas; 50 % der Fläche liegen höher als 1 200 m, mehr als 25 % über 1 800 m, über 5 % erreichen noch Höhen über 3 500 m ü. M. Dennoch hat der größte Teil des Hochlands Mittelgebirgscharakter. Der Ostafrikan. Graben teilt Ä. in das Äthiop. Hochland im W (im Ras Daschān bis 4 620 m ü. M.) und das nach SO geneigte Somalihochland. In den Grabenzonen ist die vulkan. Tätigkeit bis heute noch nicht erloschen. In den von mächtigen Basaltdecken überlagerten Hochländern haben sich die wasserreichen Flüsse (Atbara, Blauer Nil u. a.) in tiefen cañonartigen Tälern eingeschnitten. Im Ostafrikan. Graben liegen eine Reihe von abflusslosen Seen.
Ä. liegt im trop. Klimabereich; die starken klimat. Unterschiede sind in erster Linie durch die großen Höhenunterschiede bedingt. Die Niederschläge steigen allg. mit der Höhe an, außerdem wird es kühler. Das wüstenhafte Danakiltiefland im NO erhält nur mäßige Winterregen und ist im Sommer trocken; in den übrigen Landesteilen fallen die Niederschläge vorwiegend im Sommer. Es haben sich besondere Klima- und Vegetationsstufen herausgebildet: Bis 1 500 m ü. M. reicht die tropisch heiße Kolla (Halbwüste, Dornsavanne, verschiedene Typen der Trockensavanne); von 1 500 bis 2 400 m ü. M. die warm gemäßigte Woina Dega (urspr. Bergwälder, heute weitgehend Kulturland); darüber die kühle Dega (baumarmes Höhengrasland; bevorzugtes Weidegebiet), über 3 900 m ü. M. die Fels- und Eisregion der Tschoke.
Bevölkerung: Die im Hochland lebenden Amhara, Tigre (insges. 40 %) und Gurage (2 %) sowie Tigrinja und Harari sprechen semit. Sprachen und sind meist Christen (Angehörige der äthiop. Kirche); die Falascha (rd. 25 000 »schwarze Juden«) wurden fast alle 1984/85 und 1991 nach Israel ausgesiedelt. Die Oromo (Galla; 35 %), die Somal (2 %), Sidamo (4 %), Danakil und Bedja sprechen kuschit. Sprachen und bekennen sich vorwiegend zum Islam (heute über 50 % der Gesamtbev.); negride Gruppen (4 %) mit hamit. und nilot. Sprachen leben vorwiegend im S des Landes. Die allg. Schulpflicht konnte nicht überall durchgesetzt werden (über 20 % Analphabeten); eine Univ. besteht in Addis Abeba.
Wirtschaft, Verkehr: Ä. ist eines der ärmsten Länder der Erde, das durch den Bürgerkrieg wirtsch. stark zerrüttet wurde. Grundlage ist die Landwirtschaft, von ihr leben 90 % der Bev. Dürrebedingte Ernteausfälle führten zu Hungerkatastrophen und Flüchtlingselend. Der Versuch, die wirtsch. Lage durch die sozialist. Planwirtschaft (seit 1975 Verstaatlichung von Banken, Versicherungen und Großunternehmen, Enteignung des Adel und Kirche gehörenden Großgrundbesitzes) zu stabilisieren, scheiterte. - Größte Bedeutung hat der Anbau von Kaffee (zwei Drittel des Ausfuhrwertes), für den Export werden in geringen Mengen auch Obst, Gemüse, Zuckerrohr, für den Eigenbedarf Getreide (bes. die Hirseart Teff), Hülsenfrüchte und Ölsaaten sowie die Bananenpflanze Ensete (Scheinstamm und Rhizom werden gegessen, auch als Brotfrucht; Fasergewinnung) erzeugt. Trotz großer Viehbestände spielt die nomadisch betriebene Viehhaltung eine untergeordnete Rolle. Die Bodenschätze (Gold, Platin, Nickel, Kupfer, Zink, Kali- und Steinsalz) sind noch wenig erschlossen und werden nur in kleinem Umfang abgebaut. Die Ind. ist von geringer Bedeutung (überwiegend in Addis Abeba konzentriert) und verarbeitet meist landwirtsch. Erzeugnisse. - Außenhandel: Ausfuhr von Agrarprodukten, Einfuhr von Nahrungsmitteln, Erdöl, Maschinen, Fahrzeugen und Gebrauchsgütern. Wichtigste Handelspartner sind die USA, Dtl. und Japan. Der Außenhandel erfolgt überwiegend über den Hafen Djibouti. - Verkehr: Es existieren nur ein weitläufiges Straßennetz (1995: 28 000 km Straßen, davon rd. 20 % befestigt) und 782 km Eisenbahnlinie der für den Außenhandel wichtigen Strecke Addis Abeba-Djibouti (durch den Bürgerkrieg teilweise unterbrochen). Der Luftverkehr verfügt über mehrere nat. Flughäfen und einen internat. Flughafen in Addis Abeba.
Geschichte: Der Name Ä., grch. Aithiopia, hebr. Kusch, bezeichnete urspr. das Land südlich des ersten Nilkatarakts (Assuan), also etwa das heutige Nubien (Sudan und Ägypten), in grch.-röm. Zeit das ganze afrikan. Land südl. von Ägypten, danach auch Länder östl. des Roten Meeres.
Lange vor Christi Geburt wanderten südarab. (semit.) Stämme, v. a. die Habaschat, von denen sich der Name Abessinien für Ä. ableitet, und die Geez, in Ä. ein; sie gründeten Aksum. Im Altertum stand Ä. unter ägypt. und grch. Einfluss und nahm im 4. Jh. das Christentum an (äthiopische Kirche). Das Eindringen der Muslime (16. Jh.) und der heidn. Oromo sowie innere Streitigkeiten bedrohten das Reich wiederholt. Ä. war ein Gesamtstaat unter einem Herrscher (Negus) und mehreren Statthaltern (Ras), bis diese sich im 18. Jh. unabhängig machten. 1853/54 eroberte Ras Kasa von Gondar das ganze Land und regierte 1855-68 als Theodorus II., Negus Negesti (König der Könige). Sein Nachfolger, Johannes IV., kämpfte erfolgreich gegen Ägypten und Italien, das sich seit 1882 in Eritrea festsetzte, fiel aber 1889 gegen die Anhänger des Mahdi. Der Erneuerer Ä., Kaiser Menelik II. (1889-1913), eroberte weite Gebiete und schloss mit mehreren europ. Staaten Handels- und Freundschaftsverträge. Als Italien die Herrschaft über das ganze Land beanspruchte, verteidigte sich Ä. und erreichte nach dem Sieg bei Adua am 1. 3. 1896 die Anerkennung der Unabhängigkeit.Auf Menelik II. folgte 1913 sein Enkel Lidsch Ijasu, nach seinem Sturz (1917) Meneliks Tochter Zauditu; Regent war ihr Neffe Ras Tafari, der nach ihrem Tod als Haile Selassie 1930 zum Kaiser gekrönt wurde und Ä. eine Verf. gab (1931). 1935/36 eroberte Italien das Land, vereinigte es mit Eritrea und Somaliland zu Italienisch-Ostafrika; 1941 wurde Ä. von den Briten zurückerobert (5. 5. 1941 Rückkehr des Kaisers). Diese stellten 1942 die Unabhängigkeit Ä.s wieder her. 1952-62 wurde Eritrea schrittweise in den Staat eingegliedert. Außenpolitisch schloss sich Ä. den blockfreien Staaten an; 1963 trug Haile Selassie entscheidend zur Gründung der »Organisation für Afrikan. Einheit« (OAU) bei. Nach Unruhen (Febr. 1974) musste er auf Druck der Armee im Nov. 1974 abdanken. Der »Provisorische Militärverwaltungsrat« (Reg.) setzte sich bes. die Zerschlagung des Feudalsystems zum Ziel und rief 1975 die Rep. aus. Nach blutigen Revolten (1974 und 1977) setzte sich Mengistu Haile Mariam als Staats- und Regierungschef durch. Er leitete die Umwandlung Ä.s nach marxist. Vorbild ein. Jede Opposition wurde durch Terrormaßnahmen unterdrückt. Die Agrarreform (1975) steigerte sich zur »grünen Revolution« (seit 1979). Mithilfe sowjet. Waffenlieferungen und kuban. Truppen bekämpfte Ä. 1978 den Aufstand in Ogaden (1977/78) und Eritrea, in dem seit 1974 die »Eritreische Volksbefreiungsfront« (EPLF) mit Waffengewalt die staatl. Unabhängigkeit durchzusetzen versuchte. Die Kämpfe in Ogaden entwickelten sich zu einem Krieg mit Somalia, das seinerseits Ansprüche auf das Ogadengebiet erhob. Ein Autonomieangebot der Reg. an die Prov. Eritrea wurde 1987 von der EPLF abgelehnt. Der Krieg mit Somalia wurde 1988 in einem Friedensvertrag beendet. 1984 etablierte sich die marxist. »Äthiop. Arbeiterpartei« unter Mengistu Haile Mariam. Mit In-Kraft-Treten einer neuen Verfassung 1987 ging die Militärherrschaft in ein ziviles Regierungssystem über; Staatspräs. wurde Mengistu Haile Mariam. Inzwischen hatte sich im Kampf gegen das kommunist. Regierungssystem die in der Prov. Tigre operierende »Volksbefreiungsarmee von Tigre« (TPLF) gebildet, die im März 1989 die Provinz-Hptst. Makale eroberte. Getragen v. a. von der TPLF, bildete sich dort im selben Jahr als polit. Formation der Aufstandsbewegung die Äthiop. Volksrevolutionäre Demokratische Front (EPRDF). Im Febr. 1991 begannen die TPLF (von Tigre aus) und die EPLF (von Eritrea aus) eine gemeinsame militär. Offensive gegen die Zentral-Reg. in Addis Abbeba. Im Mai 1991 nahmen sie Addis Abeba ein und stürzten das kommunist. Regierungssystem; Mengistu Haile Mariam floh nach Simbabwe. Neuer Staatspräs. wurde im Juli 1991 Meles Zenawi, der Führer der EPRDF, der Tamirat Layne als MinPräs. einer Übergangsreg. einsetzte. Mit der Bildung einer eigenen Regierung für Eritrea erreichte diese Provinz faktisch ihre Unabhängigkeit und schied 1993 endgültig aus dem äthiop. Staatsverband aus. Im Juni 1998 kam es jedoch wegen differierender Gebietsansprüche zu einem Grenzkrieg zw. Ä. und Eritrea, der 1999 wieder aufflammte.Aus den Parlamentswahlen von 1995 ging die EPRDF als weitaus stärkste Gruppe hervor und stellt mit Meles Zenawi nunmehr den MinPräs.; Staatspräs. ist seitdem Negaso Gidada.
Der lang anhaltende Bürgerkrieg sowie übergroße Dürre führten mehrfach zu Hungerkatastrophen. Zusätzlich belastet wird diese Situation durch Flüchtlinge aus den von Bürgerkrieg gekennzeichneten Nachbarländern Somalia und Sudan.
Literatur:
Gerster, G.: Äthiopien - das Dach Afrikas. Zürich u. a. 1974.
Bartnicki, A. u. Mantel-Niećko, J.: Geschichte Äthiopiens. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2 Bde. A. d. Poln. Berlin-Ost 1978.
Hasselblatt, G.: Ä. am Rande des Friedens. Tigre, Oromo, Eritreer, Amharen im Streit. Streiflichter u. Dokumente. Stuttgart 1992.
Kacza, Th.: Äthiopiens Kampf gegen die italien. Kolonialisten. Pfaffenweiler 1993.
Marcus, H. G.: A history of Ethiopia. Berkeley, Calif., 1994.
Prouty, C. u.Rosenfeld, E.: Historical dictionary of Ethiopia and Eritrea. Metuchen, N. J., 21994.
An economic history of Ethiopia, hg. v. S. Bekele, auf mehrere Bde. ber. Dakar 1995 ff.
Matthies, V.: Ä., Eritrea, Somalia, Djibouti. München 31997.
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