Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Ästhetik
Ästhetik[grch. »Wahrnehmung«] die, Wissenschaft, die i. w. S. allgemeine Probleme der Kunst, i. e. S. Probleme des Schönen (Erhabenen, Hässlichen, Tragischen, Komischen usw.) behandelt. Sie untersucht (teils auf erkenntnistheoret. Wege, teils mit empir. Methoden) zum einen die Bedingungen der Konstruktion von Kunstwerken, die Strukturen des ästhet. Gegenstandes in Kunst und Natur, das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, zum anderen die Bedingungen und Formen der ästhet. Rezeption durch den Einzelnen sowie durch die Gesellschaft. - Neben der Ä. als philosoph. Disziplin (1750 von A. G. Baumgarten begründet) konstituierte sich im 19. Jh. die Ä. als empir. (z. T. experimentelle) Einzelwissenschaft. Sowohl die philosoph. als auch die einzelwiss. Ä. kann die erforschten Sachverhalte beschreiben (deskriptive Ä.) oder darüber hinaus Normen für ein Kunstwerk entwickeln (normative Ä.). - Dass auf dem Gebiet der Ä. eine systematisch begründete Theorie möglich sei, wird vielfach bestritten; ästhet. Urteile werden aber auch häufig als bloß subjektive Äußerungen angesehen oder in die empir. Psychologie verwiesen.Geschichtliches: Heraklit sah die Schönheit in einer zu harmonischer Einheit gefassten Mannigfaltigkeit begründet. Polyklet fand sie in einem nach Maß und Zahl geordneten Formverhältnis. Für Platon ist das eigtl. Schöne das göttlich Schöne, die absolute Wahrheit; das einzelne Schöne kann hiervon nur ein »Ab-Bild« sein. Aristoteles betont die Bedeutung von Symmetrie und Geordnetheit, der Neuplatonismus (Plotin) jedoch wieder die geistige Schönheit (Identifizierung von schön, göttlich und sittlich). Die Renaissance nahm die antike Proportionslehre auf und suchte das Schöne vom Menschen her (als Lebensideal) zu bestimmen. Weiterentwickelt wurde die Ä. im 18. Jh. in England, Frankreich und Dtl.; eine erste zusammenhängende Ä. im Geist rationalist. Schulphilosophie schrieb A. G. Baumgarten. A. Shaftesbury sieht das Universum als schön an und postuliert die Identität der Schönheit und des Guten. Für J.-J. Rousseau und D. Diderot gibt die Natur - im Ggs. zu Kunstregeln - die Richtschnur für das Schöne. I. Kant bezeichnet als das Schöne das, was »ohne Interesse« gefällt; das ästhet. Werturteil des »interesselosen Wohlgefallens« ist subjektiv, hat jedoch Anspruch auf eine gewisse Verallgemeinerung. Goethes Begriff des Schönen ist bezogen auf Natur in ihrer Gesetzlichkeit und auf Lebendiges in seiner Vollkommenheit. Für Schiller verwirklicht die Kunst als Spiel, in der Vereinigung von niederem Stofftrieb und höherem Formtrieb, das Schöne. Für G. W. F. Hegel ist das Schöne das »sinnl. Scheinen der Idee«, Kunst gilt ihm in der Entwicklungsgeschichte des Geistes als eine gegenüber der Philosophie niedrigere Stufe. Bei F. W. J. Schelling ist sie dagegen der Philosophie gleichgestellt, einige Romantiker geben ihr als »absoluter Kunst« den höchsten Rang. Für A. Schopenhauer bedeutet Kunst Darstellung der reinen ewigen Ideen.Im weiteren Verlauf des 19. Jh. wurde die Ä. allmählich mehr psychologisch betrachtet (F. T. Vischer, J. Volkelt); diese Art der Ä. wirkte im 20. Jh. zunächst noch weiter (T. Lipps u. a.), wobei der Begriff Einfühlung im Zentrum stand; sie wurde aber durch die von E. Husserl ausgehende phänomenolog. Ä. überwunden: Sie führt den Begriff des »ästhet. Gegenstandes« ein, der vom Auffassenden im »ästhet. Erleben« realisiert wird. Insbesondere R. Ingarden entwickelte eine Ontologie der Kunst, in anderer Weise N. Hartmann. Von der Phänomenologie gingen auch H.-G. Gadamer, der eine hermeneut. Kunstphilosophie entwickelte, und M. Heidegger aus, der der Kunst (unter Verzicht auf den Begriff Ä.) metaphys. Bedeutung zuspricht: Kunst ist »Dichtung« und eine Stiftung von Wahrheit. Für die marxistisch beeinflusste Ä. ist Kunst zu verstehen als Widerspiegelung der Wirklichkeit (G. Lukács). Ästhet. Verhalten erscheint aber auch, über das Schaffen von Kunst hinaus, als ein allg. Verhalten zur Wirklichkeit. Die neomarxist. Ä. (etwa T. W. Adorno) sieht im Kunstwerk ein zugleich autonomes und gesellschaftl. Phänomen; Kunst ist auf Wahrheit gerichtet und (E. Bloch) eine Vorwegnahme einer utopisch freien Gesellschaft. Extreme neomarxist. Richtungen lehnen die Kunst insgesamt als »bürgerlich« ab oder fordern ihre vollständige Politisierung. Die semant. Ä., vom Neopositivismus beeinflusst, betont die sinnlich erfassbaren Strukturen des Kunstwerks, deren ästhet. Zeichenkomplexe (quantitativ in der Informations-Ä. von M. Bense) entschlüsselt werden können. Ä. wird damit zu einer Kommunikationswissenschaft.
Literatur:
Lypp, B.: Die Erschütterung des Alltäglichen. Kunst-philosoph. Studien. München u. a. 1991.
Welsch, W.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 31993.
Bubner, R.: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt am Main 31994.
Knodt, R.: Ästhetische Korrespondenzen. Denken im techn. Raum. Stuttgart 1994.
Böhme, G.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ä. Frankfurt am Main 1995.
Scheer, B.: Einführung in die philosoph. Ä. Darmstadt 1997.
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