Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Atom
Atom[aus grch. átomos »unteilbar«] das, kleinstes, mit chem. Methoden nicht weiter zerlegbares Teilchen eines Elements, das dessen physikal. und chem. Eigenschaften bestimmt; es besteht aus einem A.-Kern, dessen Radius etwa 10—12 cm beträgt und der fast die gesamte Masse des A. (99,9 %) enthält, und einer A.-Hülle (Elektronenhülle) mit einem Radius von etwa 10—8 cm. Der Kern besteht aus Z elektrisch positiv geladenen Protonen und N elektrisch neutralen Neutronen; die Kernbausteine heißen Nukleonen. Die Hülle wird aus Z negativ geladenen Elektronen gebildet, sodass das A. als Ganzes elektrisch neutral ist. Z heißt Protonen- oder Kernladungszahl, N ist die Neutronenzahl und A die Nukleonen- oder Massenzahl (A = Z +N ). Die Nukleonen haben einen Eigendrehimpuls, der durch Überlagerung zu einem (Gesamt-)Kernspin führt. Die Masse des A.-Kerns ist etwas kleiner als die Summe der Protonen- und Neutronenmassen (Massendefekt). Der Zusammenhalt der A.-Kerne wird durch die Kernkräfte bewirkt. Kerne, bei denen das Verhältnis von Neutronen zu Protonen bestimmte Grenzwerte überschreitet, zerfallen. A.-Arten mit gleichen Kernladungs-, aber versch. Massenzahlen heißen Isotope (geschrieben, z. B. bei Uran: 238U, 235U, 234U). Durch Abgabe oder Aufnahme von Elektronen entsteht ein elektrisch geladenes Ion, das andere chem. und physikal. Eigenschaften hat als das ursprüngl. Atom.Aus mehreren gleichen oder versch. A. können sich durch Umlagerung der Elektronenhüllen Moleküle bilden. Die chem. Eigenschaften der Stoffe beruhen im Wesentlichen auf der Struktur der Elektronenhüllen ihrer A. und Moleküle. Dichte und Regelmäßigkeit der Anordnung der A. und Moleküle bestimmen den Aggregatzustand eines Stoffes. Bisher sind 112 natürl. und künstl. chem. Elemente mit z. T. nur sehr kurzer Lebensdauer bekannt (Transurane). Das leichteste A. ist das des Wasserstoffs mit Z = 1, N = 0 und der Masse 1,6736 · 10—24 g. Im Periodensystem der chemischen Elemente sind die A. nach wachsenden Kernladungszahlen geordnet, die auch Ordnungszahlen heißen. - Hinweise auf die Existenz kleinster chem. Einheiten im makroskop. Bereich geben die daltonschen Gesetze (Dalton). Beweise für die Existenz der A. liefern z. B. die kinetische Gastheorie, die mechanische Wärmetheorie, die Strukturanalyse der Kristalle und die Verfahren zur Ermittlung der Avogadro-Konstante.Der A.-Bau lässt sich durch spektroskop. Methoden aufklären. Da den einzelnen Elektronenzuständen genau definierte Energien zugeordnet sind, muss beim Übergang eines Elektrons von einem Zustand in einen anderen der entsprechende Energiedifferenzbetrag abgegeben oder aufgenommen werden, i. Allg. in Form elektromagnet. Strahlung wie Licht oder Röntgenstrahlen. Bei A. mit vielen äußeren Elektronen ist die Erklärung der bei Anregung emittierten Spektrallinien sehr verwickelt. Eine exakte Beschreibung des A.-Baus gelang erst mithilfe der Quantenmechanik unter Einbeziehung des Pauli-Prinzips, das den Spin der Elektronen berücksichtigt. Danach ist jeder Energiezustand eines Elektrons im A. durch vier Quantenzahlen festgelegt. Die sich als Lösung der Schrödinger-Gleichung ergebenden Wellenfunktionen beschreiben das räumlich-zeitl. Verhalten der Elektronen. Der klass. Begriff der »Bahn« eines Elektrons wird unzulässig, da sich der Ort eines Elektrons nicht mehr genau vorhersagen lässt. Man kann nur eine durch das Betragsquadrat der Wellenfunktion festgelegte Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons angeben.
Atommodelle: Die Modellvorstellungen über den Aufbau der A. spiegeln die rasche Entwicklung auf dem Gebiet der A.-Physik, bes. seit Anfang des 20. Jh., wider. Das Kugelmodell (daltonsches Atommodell) beschreibt das A. als mehr oder weniger starre Kugel; sie kann Schwingungen um ein Zentrum ausführen und Kraftwirkungen auf die Umgebung ausüben; mit ihm lassen sich u. a. die Gasgesetze sowie Diffusion, Wärmeleitung und Osmose erklären. Nach dem Rutherford-Bohr-Atommodell besteht das A. aus einem Kern positiver Ladung, der auf genau definierten Kreisbahnen von den Elektronen der A.-Hülle umkreist wird. Energie und Drehimpuls der Elektronen können nach den bohrschen Postulaten nur ganz bestimmte Werte annehmen.
Im Bohr-Sommerfeld-Atommodell sind die Kreisbahnen durch Ellipsenbahnen ersetzt. Beim De-Broglie-Schrödinger-Modell werden die stationären Quantenbahnen der Elektronen durch Materiewellen beschrieben; es sind nur solche Wellenlängen möglich, die zu stehenden Wellen um den A.-Kern führen (Wellenmechanik). Im Orbitalmodell wird jedes Elektron durch eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit (Dichteverteilung) im Raum um den A.-Kern charakterisiert.
Geschichte: Im Altertum vertraten die grch. Philosophen Leukipp und Demokrit (um 500 v. Chr.) als Erste die Auffassung, die Materie sei nicht unbeschränkt teilbar. Diese Gedanken wurden erst wieder aufgegriffen, als J. Dalton 1808 erkannte, dass sich die chem. Elemente nur in ganz bestimmten Massenverhältnissen zu Verbindungen vereinigen; er erklärte dies durch Zusammenbau aus gleichartigen kleinen Teilchen. J. Loschmidt gelang es 1865, die Zahl der Teilchen in einem Mol zu ermitteln. Etwa gleichzeitig wurde die Natur der Elektrizität entdeckt (M. Faraday, H. L. F. von Helmholtz, P. Lenard, H. R. Hertz) und die elektr. Elementarladung bestimmt. Die kinet. Gastheorie (R. J. E. Clausius, J. C. Maxwell, L. Boltzmann) zur Aufklärung der therm. Eigenschaften der Materie gab ebenfalls einen deutl. Hinweis auf die atomist. Struktur der Materie.
Die Untersuchungen des A.-Baus begannen mit den Versuchen von E. Rutherford zur Streuung von Alphateilchen an Folien und von P. Lenard über den Durchgang von Elektronenstrahlen durch Materie. Um 1913 gelang es N. Bohr, mithilfe der Quantengesetze (M. Planck) das Wasserstoffspektrum und den Bau des Wasserstoff-A. aufzuklären. Die Arbeiten von L.-V. de Broglie (1924) über die Doppelnatur des Lichtes (elektromagnet. Welle oder Elementarteilchen) erlaubten E. Schrödinger, ein wellenmechan. A.-Modell, und schließlich W. Heisenberg, ein quantenmechan. A.-Modell zu entwerfen.
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