Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Armut
Armut, wirtsch. Situation, in der es Einzelnen oder Gruppen nicht möglich ist, ihr Existenzminimum aus eigenen Kräften zu beschaffen (objektive A.). Subjektive A. ist ein Gefühl des Mangels an Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung. Als absolute A. gilt eine Mangelsituation, in der die phys. Existenz von Menschen unmittelbar oder mittelbar bedroht ist. Bei relativer A. ist zwar das phys. Existenzminimum gesichert, jedoch wird das soziokulturelle Existenzminimum deutlich unterschritten. Das Aufstellen objektiver A.-Parameter von überregionaler und überzeitl. Geltung ist problematisch. Gegenwärtig wird A. bes. als Problem der Entwicklungsländer begriffen, dem die Industrienationen mit Entwicklungshilfe bzw. durch Neuordnung der Weltwirtschaftsordnung begegnen müssen. Aber auch in den führenden Industriestaaten sind seit Mitte der 1970er-Jahre Bevölkerungsgruppen (Langzeitarbeitslose, allein Erziehende, Seniorinnen, Obdachlose, Suchtkranke u. a.) von A. betroffen. Dieser neuen A. kann nur durch komplexe wirtsch., sozialpolit. (Sozialhilfe), erzieher. und fürsorger. Maßnahmen begegnet werden. Anfang der 1990er-Jahre galten 10-12 % der Bev. in West-Dtl. als arm. Die Hälfte dieser Menschen lebte in »strenger A.« (weniger als 40 % des Durchschnittseinkommens). Massen-A. in neuen Dimensionen entwickelt sich in einigen osteurop. Staaten mit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft und dem Transformationsprozess zur Marktwirtschaft. Die Weltbank schätzt die Zahl der Armen für die 1990er-Jahre auf weltweit eine Milliarde Menschen.Geschichtliches: Absolute A. ist eine ständige Bedrohung der frühen menschl. Gesellschaften, v. a. im Zusammenhang mit Naturkatastrophen (Überschwemmungen, Missernten, Schädlingsfraß u. a.) und Naturprozessen wie Klimaveränderungen. Mit der im MA. zu einem Abschluss gelangenden, zunächst an Grundbesitz und dann zunehmend an Produktionseinrichtungen gebundenen Schichtung der Gesellschaft (ständ. Schichtung, frühe Klassenbildung) trat relative A. - neben der absoluten A. in Kriegs- und Krisenzeiten - als Dauererscheinung auf. Sieht man wegen der für sie geltenden Besonderheiten von den Sklaven haltenden Gesellschaften der Antike ab, so kann jedenfalls bereits im kaiserl. Rom von A. im heutigen, relativen Sinn und von subjektiver A. gesprochen werden. Mit dem Übergang zu Vorformen der Fernhandels- und Manufakturgesellschaft trat als chancenbestimmender Faktor das Geld an die Seite des gegenständl. Besitzes. Geldvermögenslosigkeit begründete, trotz theoretisch renditefähigen Eigentums (Boden, Werkstatt), relative A. und bezog so bislang nicht als arm angesehene Stände (Bauern, Handwerker) ein. Beim Übergang zur Neuzeit wurden Kapital-, Grund- und Produktionsvermögen in einer absolut gesehen dünnen Bevölkerungsschicht konzentriert, damit wurde die große Mehrheit der Bev. von A. gefährdet, da Einkommenslosigkeit bei fehlenden Ressourcen (Renditevermögen, zureichende Unterhaltsansprüche) unverzüglich zu relativer, meist auch absoluter A. führte.Lange Zeit gab es eine religiös motivierte freiwillige A., die z. T. als der Versuch angesehen werden kann, asketisch die von den eigentl. Heilszielen ablenkenden Formen des Lebens- und Daseinsgenusses zu überwinden (so im frühen Buddhismus) oder die z. T., wie im frühen Christentum und in den A.-Bewegungen des MA., von der Intention bestimmt war, dem weltüberwindenden Vorbild des sich freiwillig erniedrigenden Christus nachzueifern, dessen Wirken in der Welt als Solidarität mit den Armen und Erniedrigten aufgefasst wurde (z. B. Waldenser, Franziskaner). So wurde A. als Möglichkeit gesehen, das Heil über den Weg der Bedürfnislosigkeit und die Solidarität mit den Armen zu erlangen. Im MA. trafen diese Bestrebungen auf den Widerstand der Kirche und führten zum A.-Streit. Gleichwohl blieb die christl. A.-Bewegung eine breite Strömung innerhalb der Kirche und führte zu einem ausgeprägten christl. Bettelwesen. Dies wurde erst durch Luther zurückgedrängt, der das A.-Ideal als egoist. Heilsinteresse und als ein auf die eigene Vervollkommnung zielendes Streben kritisierte.
▣ Literatur:
W. Hanesch A. in Deutschland, hg. v. u. a. Reinbek 11.-18. Tsd. 1994.
⃟ A. in Entwicklungsländern, hg. v. H.-B. Schäfer u. a. Berlin 1994.
⃟ Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur A. in Deutschland, hg. v. M. M. Zwick. Frankfurt am Main u. a. 1994.
⃟ Buhr, P.: Dynamik von A. Opladen 1995.
⃟ Sozialpolit. Strategien gegen A., hg. v. W. Hanesch. Opladen 1995.
▣ Literatur:
W. Hanesch A. in Deutschland, hg. v. u. a. Reinbek 11.-18. Tsd. 1994.
⃟ A. in Entwicklungsländern, hg. v. H.-B. Schäfer u. a. Berlin 1994.
⃟ Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur A. in Deutschland, hg. v. M. M. Zwick. Frankfurt am Main u. a. 1994.
⃟ Buhr, P.: Dynamik von A. Opladen 1995.
⃟ Sozialpolit. Strategien gegen A., hg. v. W. Hanesch. Opladen 1995.