Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Antisemitismus
Antisemitịsmusder, Abneigung und Feindseligkeit gegenüber den Juden, insofern irreführend, als nicht die Gesamtheit der semit. Völker gemeint ist. Ursprünglich entzündete sich diese Feindschaft an der religiösen und sozialen Absonderung der Juden in den Gastländern, seit sie über die Welt verstreut wurden (Diaspora), sodass die jüd. Minderheiten schon vor der Durchsetzung des Christentums als fremdartig erschienen. Von dieser traditionellen Judenfeindschaft (Judenverfolgungen im Röm. Reich, Kampf gegen das Judentum im MA.) ist der moderne, v. a. gegen die Judenemanzipation (rechtl. und gesellschaftl. Gleichstellung seit dem 18./19. Jh.) gerichtete A. zu unterscheiden. Er wurde vorwiegend wirtsch. und politisch begründet und benutzt (z. B. J. A. Gobineau, H. S. Chamberlain). Seit dem Ende des 19. Jh. gewann der rassist. A. v. a. in Dtl., Österreich-Ungarn und auch in Osteuropa wachsenden polit. Einfluss. Nach dem 1. Weltkrieg wurde er für breite Schichten in diesen Ländern zur irrationalen Zwangsvorstellung und Schlüsselerklärung der sozialen und polit. Strukturkrise. Die hemmungslose antisemit. Agitation erklärte den Einfluss von Menschen jüd. Herkunft und Tradition in Wirtschaft, Kunst und Literatur als »zersetzend«; sie stellte alle Formen des Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus nur als versch. Ausprägungen einer zielgerichteten, »parasitären« jüd. »Unterwanderung« dar. Dieser bereits in seiner Gesinnung gewalttätige A. führte als fester Bestandteil der nat.-soz. Ideologie in Dtl. zu einer ständig sich steigernden Judenverfolgung von der Ausschaltung der Juden aus dem öffentl. Leben, der staatl. Provozierung von Pogromen bis zur »Endlösung der Judenfrage«, d. h. der Ermordung von etwa 6 Mio. Juden während des Zweiten Weltkrieges.Nach 1945 ist der A. als kollektives Vorurteil weltweit noch keineswegs überwunden (z. B. Anschläge rechtsradikal-antisemit. Gruppen auf jüd. Einrichtungen in Dtl.). Im europ. Herrschaftsbereich des Marxismus-Leninismus war der A. nur oberflächlich überdeckt. In den angelsächs. Ländern hat der A. religiösen, wirtsch. oder gesellschaftlich-diskriminierenden Charakter. In den islam. Ländern besteht im Kampf der Araber gegen den Zionismus und den Staat Israel ein A. eigener Art. Auch sonst zeigen sich in neuerer Zeit Übergänge zw. A. und Antizionismus; dessen Motive können dann (unbewusst oder aus ideolog. Gründen) zu antisemit. Konsequenzen führen.Der Beseitigung des A. dienen u. a. die internat. Verträge und die Bemühungen der UNO zur Gewährleistung der Menschenrechte sowie die innerstaatl. Verbote der unterschiedl. Behandlung von Menschen wegen ihrer Abstammung, Rasse, Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer polit. Anschauung. Die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bemühen sich, antisemit. Vorurteile an ihrer Wurzel zu bekämpfen; Religionsgespräche zw. Juden und Christen tragen zur weiterführenden Diskussion bei.
Literatur:
Poliakov, L.: Gesch. des A., 8 Bde. A. d. Frz. Worms u. a. 1-21977-88.
Bibliographie zum A., hg. v. H. A. Strauss, 3 Bde. u. Register-Bd. München 1989-93.
Katz, J.: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der A. 1700-1933. A. d. Engl. Neuausg. Berlin 1990.
Bergmann, W. u. Erb, R.: A. in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empir. Forschung von 1946-1989. Opladen 1991.
A. in Osteuropa. Aspekte einer histor. Kontinuität, hg. v. P. Bettelheim, Beiträge v. W. Benz u. a. Wien 1992.
A. Vorurteile und Mythen, hg. v. J. H. Schoeps u. J. Schlör. München u. a. 1995.
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