Duden ‒ Das große Wörterbuch der deutschen Sprache
verziehen
ver|zie|hen [mittelhochdeutsch verziehen = auseinanderziehen; verstreuen; hinziehen, verzögern; wegziehen; entfernen; wegnehmen, entziehen; verweigern, althochdeutsch farziohan = wegnehmen; falsch erziehen]:1.
a) aus seiner normalen, üblichen Form bringen; ↑ "verzerren" (1 a):
den Mund schmerzlich, angewidert, zu einem spöttischen Lächeln verziehen;
sie verzog das Gesicht vor Schmerz, zu einer Grimasse;
ohne eine Miene zu verziehen;
keine Miene verziehen (sich eine Gefühlsregung nicht anmerken lassen, sie nicht zeigen);
Zynisch verzog er die Lippen (Apitz, Wölfe 40);
Wie alle jungen Mädchen aber leistet sie in der Welt ganz fröhlich, worüber sie zu Hause den Mund verzieht (durch Verziehen des Mundes ihren Unwillen, ihr Missfallen zum Ausdruck bringt; Werfel, Bernadette 308);
b) seine normale, übliche Form in bestimmter Weise verändern:
sein Gesicht verzog sich schmerzlich, zu einer Grimasse;
Keine Miene verzieht sich je in ihrem Gesicht (Domin, Paradies 14);
die Pupillen waren ganz groß; sie verzogen sich nicht (Sebastian, Krankenhaus 131);
… desto breiter verzog sich ihr zahnloser Mund zum freundlichsten Lächeln (Th. Mann, Krull 149);
seine Schulterblätter, ein wenig schief stehend von Natur, verzogen sich im Gehen (Th. Mann, Hoheit 86).
2.
a) (selten) bewirken, dass sich etwas verzieht (2 b):
feuchtwarme Luft … verzog die Holzrahmen (Bieler, Mädchenkrieg 373);
b) die Form, Fasson geringfügig ändern; sich ↑ "werfen" (3 b):
die Türen, Fensterrahmen haben sich verzogen;
Kunststoffgehäuse können sich verziehen;
c) die ursprüngliche Form verlieren; länger, weiter usw. werden:
der Pullover hat sich beim Waschen verzogen.
3. an einen anderen Wohnort, in eine andere Wohnung ziehen; umziehen:
in eine andere Stadt, nach Würzburg verzogen sein;
sie sind schon vor drei Jahren verzogen;
Empfänger, Adressat verzogen [neuer Wohnsitz unbekannt] (Vermerk auf unzustellbaren Postsendungen);
Der Baron … verzog mit seinem Mustersöhnchen nach Kanada (K. Mann, Wendepunkt 29);
Befragt, ob er es nicht wünschenswert fände, wenn alle westwärts verzogenen Autoren in der DDR geblieben wären … (Maron, Begreifungskraft 41).
4.
a) allmählich weiterziehen und verschwinden:
die Regenwolken verziehen sich;
das Gewitter, der Nebel hat sich verzogen;
der Schmerz hat sich verzogen (ist abgeklungen);
Der Rauch der Nebelkerzen verzieht sich langsam (Woche 28. 2. 97, 21);
Während dieser Zeit wird die Küche gut gelüftet, damit sich der Dunst verzieht (Horn, Gäste 19);
der Lärm draußen scheint sich zu verziehen (scheint abzuklingen; Sieburg, Robespierre 265);
Ü Als ich mich eingelebt hatte und meine anfängliche Schüchternheit sich verzog (schwand; Leip, Klabauterflagge 35);
b) (umgangssprachlich) sich [unauffällig] entfernen, zurückziehen:
sie verzogen sich in eine stille Ecke und plauderten;
verzieh dich! (salopp; verschwinde!);
Friedemann reißt die Wagentür auf der Beifahrerseite auf und gibt mir zu verstehen, dass ich mich auf die Rückbank verziehen solle (Gabel, Fix 29);
Er … verzog sich zuletzt ins Badezimmer, um zu gurgeln (Baum, Paris 79).
5. (ein Kind) durch übertriebene Nachsicht nicht in der richtigen Weise erziehen:
sie haben ihre Kinder verzogen;
er ist ein verzogener Bengel.
6. (Landwirtschaft) vereinzeln:
junge Pflanzen verziehen;
Ställe ausmisten, Rüben verziehen und Heu laden (Spiegel 27, 1993, 182).
7. (Ballspiele) den Ball so treffen, dass er nicht in die beabsichtigte Richtung fliegt:
der Spieler verzog den Ball, Schuss;
Hahn verzog frei vor dem gegnerischen Tor (Freie Presse 14. 2. 90, 6).
8. (veraltet)
a) sich verzögern, auf sich warten lassen:
Wehe, wenn auch die Spätregen verzögen und ausblieben (Th. Mann, Joseph 112);
b) säumen, zögern, etwas zu tun:
mit seiner Hilfe verziehen;
sie verzog zu kommen;
c) verweilen:
Was musste jener so früh heraus, als ob's ihm nicht trüge, noch ein wenig zu verziehen? (Fussenegger, Haus 34);
Heho, ihr Männer! Woher? Wohin? Verzieht doch etwas! Hier ist Schatten (Th. Mann, Joseph 601);
K Verzieht, und eilet nicht so stolz … vorüber (Lessing, Nathan II, 5);
d) warten:
eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen (Goethe, Werther I, 16. Junius);
Sie bat ihn, noch einige Augenblicke zu verziehen (Novalis, Heinrich 163);
e) sich verzögern:
Die Abfahrt aus der Stadt verzieht sich gewöhnlich bis gegen Abend (Goethe, Wanderjahre III, 13).
9. (Linien, Schriftzeichen o. Ä.) ineinanderschlingen, 1"verschlingen":
haben wir nichts als Porträte, verzogene Namen und allegorischen Figuren, um einen Fürsten zu ehren …? (Goethe, Lehrjahre III, 6);
Inwärts auf dem Kasten muss der Fräulein verzogener Name stehen (Lessing, Minna II, 2).
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