Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Wissenschaft
   in einem weiten Sinn heißt jede mit nachprüfbaren Methoden vorgenommene Beschäftigung mit ”Gegenständen“, die eine bestimmte Zielsetzung verfolgt: Sie sucht nach einem Konsens mit anderen Menschen, die gleiche Fragen haben; sie formuliert ihre Befunde begrifflich klar u. logisch widerspruchsfrei; sie ergründet u. systematisiert die Eigenschaften des Untersuchten, um Strukturen u. Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. In der antiken W. dominierte die Philosophie, da es um die Erkenntnis unveränderlicher, ewiger Prinzipien ging. Die W. der Neuzeit war vordringlich um die Wiederholbarkeit u. Nachprüfbarkeit der Erkenntnisse besorgt; statt mit einfachen geistigen Ideen u. Formen umzugehen, sah sie sich einer vielschichtigen Erfahrungswelt gegenüber. Da die unterschiedlichen empirischen Ebenen unterschiedliche Untersuchungsmethoden erforderten, entstand die Pluralität der Wissenschaften seit dem 17. Jh. Generell gesehen bewährte sich der Ausgang von Hypothesen (griech. = unbewiesene Annahmen), die im Experiment ”bewiesen“ werden mußten. In der Sprache begannen sich die Wissenschaften statt an der Begrifflichkeit der Ideen u. Teilhaben nun an der Mathematik zu orientieren. Das 20. Jh. brachte noch einmal neue Umbrüche im Bereich der Wissenschaften. Bis zur Gegenwart ist die wissenschaftliche Landschaft von einer weitgehenden gegenseitigen Nicht-Anerkennung von Naturwissenschaften u. Geisteswissenschaften gekennzeichnet, wobei die ersteren nicht selten beanspruchen, wegen ihres empirischen Vorgehens allein exakte Wissenschaften zu sein. Erschütterungen dieses Wissenschaftsverständnisses gingen zuerst von der Physik aus (Relativitätstheorie, Atom- u. Astrophysik). Die Annahme, Naturwissenschaft könne von gesicherten Grundlagen u. einem System von Regeln aus fortschreitend ihre Kenntnisse erweitern, ging verloren. In den Geisteswissenschaften wurde die Möglichkeit von W. aus der Struktur der Sprache u. der Konvention über Zeichen zu begründen versucht. Die seit der Antike zu beobachtenden Veränderungen wurden durch das Modell des Paradigmenwechsels erklärt (Paradigma griech. = beispielhaftes Bild): Die Grundvorstellungen (Ausgangsmodelle) jeder W. halten gegenüber Abweichungen von vermeintlich feststehenden Regeln nicht stand, so daß fundamentale Neuorientierungen nötig werden. Außer in den Naturwissenschaften wurde diese Einsicht auch in den kulturgeschichtlichen Untersuchungen der Geisteswissenschaften von Bedeutung (Wandel der Wertvorstellungen, Verzicht auf die Sinnfrage usw.). Die genannten Problematiken betreffen bis heute auch die [c darkviolet]Theologie, sowohl ”nach außen“ hin in ihrem Geltungsanspruch als W. wie auch in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis, wobei die einzelnen Disziplinen oder Fächer der Theologie noch einmal in unterschiedlicher Weise als W. zu verstehen u. ausgewiesen sind.
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