Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Weisheit
   bezeichnet (1) ein umfassendes Daseinsverständnis u. (2) eine bestimmte Lebensauffassung in Israel.   1. Aus der Einsicht in die komplexen, nicht leidlosen Naturabläufe, aus der realistischen Betrachtung individueller u. kollektiver Antriebe, aus Toleranz u. Verstehen anderer Menschen u. Lebenspraktiken, aus der Einübung der Gelassenheit entsteht die Lebensform der W., nicht Resignation, aber Distanz. Sie läßt sich als umfassendere u. höhere Form der Tugend der Klugheit verstehen. Als ihren Anfang bezeichnet das AT die Gottesfurcht (Spr 9, 10; Ps 111, 10). Sie gilt als so hohes Gut, daß sie in derWeisheitsliteratur personifiziert wird (hebr. ”chokma“, griech. ”sophia“). Sie ist am Erschaffen des Universums durch Gott beteiligt (Spr 8, 30), durch sie ist die Erde gegründet (Spr , 19). Der Träger des kommenden Friedensreiches ist u. a. durch den ”Geist der W.“ (Jes 11, 2) ausgezeichnet. Wahrscheinlich von einem ”messianischen“ Verständnis dieser Ansage aus könnte sich im NT eine Weisheitschristologie entwickelt haben (Lk 2, 40 52; 7, 35; 1 Kor 1, 30). Paulus bringt die W. Gottes, die im ”Wort vom Kreuz“ geoffenbart wurde, in Gegensatz zur (rationalistischen) W. der Welt (1 Kor 1, 17–30). Dem entsprechend sehen die Deuteropaulinen die W. als Geschenk der Gnade Gottes an. Ist die W. ein auf Gott hin orientiertes u. aus seiner Selbstmitteilung lebendes Daseinsverständnis, dann gilt sie als eine der sieben ”Gaben des Heiligen Geistes “.
   2. Diejenigen Schriften u. Textteile des AT , die Wegweisungen zu einem richtigen Verhalten vor Gott u. der Glaubensgemeinschaft enthalten u. segensreiche Folgen daraus versprechen, heißen ”Weisheitsliteratur“ (Koh; Spr; Weish; Ijob; Sir; einige Psalmen; Einzelteile anderer Schriften). In ihnen wird positiv u. auch kritisch von einer Lebensauffassung in Israel gesprochen, die dem ”Tun-Ergehens-Zusammenhang“ gewidmet ist: Gutes Tun hatWohlergehen u. Erfolge, böses Tun ein böses Ergehen zur Folge, u. zwar in der Verbundenheit der Generationen wie im individuellen Schicksal. Der ”weise“ Mensch lebt aus der Einsicht in diese Zusammenhänge. Ijob u. Koh bezeugen auf unterschiedlicheWeise die Kritik an dieser Auffassung, die zu einem fatalistischen Schicksalsglauben führt u. an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln läßt.
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