Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Wahrheit
   (sprachlich verwandt mit lat. ”veritas“ = das Vertrauenswerte; griech. ”aletheia“ = das Unverheimlichte, Unverborgene). Im Begriff W. ist zunächst eine Alltagsbedeutung enthalten, die Übereinstimmung einer Aussage mit dem von ihr gemeinten Sachverhalt. Davon unterscheidet sich das philosophische u. theol. Verständnis von W. Geistesgeschichtlich existiert eine zeitlose ”Frage nach der W.“ nicht, ebenso meinen nicht alle Sprachen mit ihren unterschiedlichen Begriffen für W. einfach ”dasselbe“.   1. Zur Geschichte. In der griech. Philosophie galt vom 5. Jh. v.Chr. bis Plotin († 270 n.Chr.) die Aufmerksamkeit der Bemühung des Denkens um größtmögliche Übereinstimmung mit dem kosmischen göttlichen Geist, die darum möglich sei, weil ein ursprünglicher innerer Zusammenhang von Denken u. göttlichem Logos (oder ”nous“) bestehe. In der christlichen Theologie (Thomas von Aquin †1274) wurde dieses Übereinstimmungs-Denken aus dem Schöpfungsglauben begründet: Die menschliche Erkenntnis ist ebenso wie dasjenige, was sie erkennt, in ein u. demselben göttlichen Geist begründet (erschaffen), daher ist W. ”die Übereinstimmung der Sache u. des erkennenden Denkens“ (wobei in dieser Definition nicht ausgesprochen wird, daß die Übereinstimmung aussagbar ist u. daher grundsätzlich überprüfbar sein muß). Seit dem Nominalismus wird der Zusammenhang der Erkenntnis mit dem göttlichen Geist nicht mehr in die philosophische Diskussion über die W. einbezogen. Im 20. Jh. gilt die erstrangige Aufmerksamkeit vielmehr der Sprache, wobei sprachanalytische, semantische, logische u. pragmatische Untersuchungen zu unterschiedlichen Wahrheitstheorien führen. Abgesehen von der Redundanztheorie, nach der prinzipiell auf die Begriffe ”wahr“ u. ”falsch“ zu verzichten sei, sehen alle die ”Bedingung der Möglichkeit von W.“ als in der Sprache gegeben an. Eine gewisse Favorisierung gilt der Konsenstheorie, nach der ein Verfahren der dialogischen Wahrheitsfindung u. das diskursive Auffinden einer Übereinstimmung vonWahrheitsansprüchen die Voraussetzungen dafür sind, daß eine Aussage allgemein als wahr anerkannt werden kann. Hinsichtlich bestimmter logischer Bedingungen dafür besteht ein Konsens: Eine Aussage muß im logischen Zusammenhang mit anderen Aussagen stehen, widerspruchsfrei sein, einen Bezug zu einem bestimmten Kontext haben (denn aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen können nicht Anspruch auf W. erheben) usw. Ihre Geltung dauert an, bis sie durch eine andere, ihrerseits ”verifizierte“ Aussage ”falsifiziert“ wird.
   2. Das religiöseSein in der W.“ Das einfache Bei-sich-selber-Sein eines Erkennenden (seine innere ”Gelichtetheit“ im Sinn der ”a-letheia“) kann als dessen W. verstanden werden. Diese ursprüngliche ”Gelichtetheit “ muß nicht immer begrifflich-gegenständlich oder thematisch sein. Als Bedingung ihrer Möglichkeit enthält sie eine Erfahrung der [c darkviolet]Transzendenz des Geistes in sich, u. in dieser Erfahrung ist eineW. gegeben, die in allen anderen Erfahrungen enthalten, also die umfassendeW. u. nicht eine unter vielen Wahrheiten ist. Diese W. ist identisch mit einem Verwiesensein auf Gott, ein schweigendes Sein vor Gott als dem abgründigen Geheimnis . Wird diese W. nicht verdrängt, emotional abgewiesen, sondern unbefangen angenommen, dann ist ein Mensch ”in der W.“, er ist an die unbegreifliche W., die ihn umfaßt, hingegeben u. so selber ”wahr“ gemacht, d.h. von sich selber befreit (Joh 8, 32). Der religiöse Glaube sagt dem Menschen, daß er zu dieser freien Annahme seiner eigenen Transzendenz von sich aus nicht fähig ist, sondern daß sie wegen des allgemeinen Heilswillens Gottes durch dessen Gnade ”erhoben“ ist, so daß die Annahme der eigenen Transzendenz zugleich die Annahme dessen bedeutet, daß das eigene Leben auf den sich in seiner Selbstmitteilung erschließenden Gott hingeordnet ist. Im Sinn des religiösen Glaubens besagt ”Sein in der W.“ also die Bejahung der eigenen Hinordnung auf den Gott des ewigen Lebens, der ”die W.“ schlechthin ist u. der durch sich selber der Kreatur den absolut lichten u. liebenden Besitz der Fülle der W. in der Anschauung Gottes schenken will.
   3. Wahrheitsprobleme der Theologie. Wenn Theologie nicht Gott zum ”Gegenstand“ hat, sondern ihre Aufgabe das Reden von Gott u. die Überprüfung der Rede von Gott ist, dann ist sie primär auf die geglaubte Offenbarung Gottes bezogen. Stellt sich die Theologie der heutigen Wahrheitsdiskussion, dann bedeutet das a) daß ihre Sätze überprüfbar mit der Wortoffenbarung Gottes übereinstimmen u. widerspruchsfrei sein müssen; b) daß ihre Sätze mit dem Konsens der Glaubensgemeinschaft im Verstehen der Wortoffenbarung übereinstimmen müssen; c) daß sowohl ihre Sätze als auch die Konsensaussagen der Glaubensgemeinschaft in Übereinstimmung mit gegenwärtigen Erfahrungen gebracht werden, jedenfalls nicht im Widerspruch zu diesen stehen; d) daß die Ansprüche der Offenbarung Gottes, Menschen zu praktischem Handeln zu bewegen, durch die Theologie in ihrer Bedeutung als Handlungsimpulse für die jeweils ”heutige Situation“ ausgelegt werden müssen, damit die ”Bewahrheitung“ umfassend, nicht nur auf der Ebene der Übereinstimmung, sondern auch auf der Ebene der Praxis erfolgt. Diese Bewahrheitung ist immer ein Geschehen, verbunden mit einer Wegsuche unter dem Vorzeichen der im Wort Gottes enthaltenen Verheißungen.
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