Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Unfehlbarkeit
   (lat. ”infallibilitas“), ein vielfach mißverstandener u. der Interpretation bedürftiger Begriff der kath. Glaubenslehre, der besagt, 1. daß die Gemeinschaft der Glaubenden im ganzen durch Gottes Gnade, nicht durch menschliche Fähigkeit, davor bewahrt wird, aus der Wahrheit u. Liebe Gottes herauszufallen, u. 2. daß das Lehramt der Kirche, wenn es Inhalte der Offenbarung Gottes mit letzter Verbindlichkeit vorträgt, durch die Gnade Gottes vor Irrtum bewahrt wird. Die U. im erstgenannten Sinn war immer die Überzeugung der Gesamtkirche. Aus ihr entwickelte sich unter starker Beteiligung politischer u. kirchenpolitischer Faktoren die Lehre von der U. im zweiten Sinn, die auf dem I. Vaticanum zu einer dogmatisch verbindlichen Formulierung führte. – Die U. der Gesamtkirche wird aus der Endgültigkeit der Heilssituation in Jesus Christus abgeleitet. Nach kirchlichem Glauben gehören Wahrheit, Glauben u. kirchlich-institutionelle Verfaßtheit zur eschatologischen Offenbarung als Heilstat Gottes. Würde ein Irrtum hinsichtlich dieser Heilswirklichkeit als definitiv gemeint werden, dann wäre die Heilswirklichkeit selber aufgehoben. Der universale Konsens der Gesamtkirche ”in Sachen des Glaubens u. der Sitten“, der ”unfehlbar“ ist, d. h. im Glauben nicht irren kann (II. Vaticanum LG 12 ), hat bisher nur das Lehramt als sein Organ, das den Glaubenssinn aller kundgeben kann. Dieses Lehramt hat eine hierarchische Struktur, aus der sich die kundgebenden Organe der U. entwickelt haben: 1. ”unfehlbar“ im genannten Sinn ist der Gesamtepiskopat der Kirche, wenn er zusammen mit u. ”unter“ dem Papst etwas als von Gott geoffenbart u. alle Gläubigen verpflichtend vorträgt (II. Vaticanum LG 23 ); 2. ”unfehlbar“ ist ebenso lehrend ein allgemeines Konzil zusammen mit dem Papst (II. Vaticanum LG 25 ); 3. ”unfehlbar“ ist der Papst allein, wenn er als oberster Lehrer der Gesamtkirche ”ex cathedra“, d. h. unter Berufung auf seine oberste Lehrautorität, hinsichtlich einer von Gott geoffenbarten Wahrheit eine allgemein u. endgültig verpflichtende Lehrentscheidung trifft (I. Vaticanum). Diese endgültige Entscheidung des Papstes ist ”aus sich“ (”ex sese“) u. nicht erst durch Zustimmung der Kirche unabänderlich. Sie muß aber die Glaubensüberzeugung der Gesamtkirche zum Ausdruck bringen. Wie die Bischöfe u. alle anderen Lehrenden ist der Papst an Schrift, Tradition u. die früheren Entscheidungen der Kirche gebunden. In seinen privaten Ansichten u. persönlichen Verhaltensweisen ist der Papst niemals ”unfehlbar“. ZumGegenstand der U. wird außer den von Gott selber geoffenbarten Wahrheiten auch alles dasjenige gerechnet, was notwendig ist, um eine Wahrheit der Offenbarung vor Fälschung zu bewahren; daher kann das Lehramt auch über dasjenige urteilen, was so mit einer geoffenbarten Wahrheit in Zusammenhang steht, daß dessen Verfälschung den Glauben als ganzen oder eine einzelne Wahrheit gefährden würde. Bei solchen Urteilen hat das Lehramt die argumentative Beweispflicht; die bloße Behauptung, seine Ansicht sei authentisch u. definitiv, gehört nicht in den Bereich des Glaubens, sondern sie ist allenfalls disziplinarischer Natur. – Zur theol. Problematik. Die Lehre von der U. bezieht sich nicht auf eine absolut gesicherte Erkenntnis irgendeiner ganz neuen Wirklichkeit u. Wahrheit, sondern sie hat das Bleiben der Glaubenden in der alten Wahrheit zu garantieren u. sonst nichts. Damit zeigt sich die Unentbehrlichkeit der Theologie hinsichtlich der früheren Dogmen ([c darkviolet]Dogma): Sie hat die Aufgabe, die damalige Lehrautorität u. die Absicht ihrer Lehraussage genau festzustellen. Sie hat auch die Situation, die Adressaten der Aussage, die zu allen Zeiten beschränkten Aussagemittel, den engeren historischen Kontext, das vorherrschende Interesse, das nie ”rein religiös“ ist u. auch unchristlich sein kann, zu erhellen (Geschichtlichkeit). Hinsichtlich künftiger Dogmen kann man sagen: Jedes wirklich neue Dogma, das nicht nur ein altes aktualisierend wiederholt, bedürfte zu seiner Formulierung einer u. derselben Theologie in der ganzen Kirche hinsichtlich der Begriffe, der Argumentationsgänge usw. Diese (früher gegebene) Einheit u. Selbigkeit der Theologie besteht aber nicht mehr u. kann auch gar nicht mehr umfassend u. adäquat wiederhergestellt werden (Polyzentrismus der Kirche, Pluralismus der Kulturen u. Theologien). Eine neue dogmatische Definition, wenn sie versucht werden sollte, hätte eine solche legitime Interpretationsbreite zur Folge, daß es neben ihr keinen Irrtum mehr geben könnte. Damit ist ein ”Ende“ eines wirklich neu dogmatisch definierenden Lehramts sichtbar. Die Geschichtlichkeit eines Dogmas darf jedoch nicht so interpretiert werden, als garantiere Gott lediglich ein eschatologisches Bleiben der Kirche in der Wahrheit, während Aussagen der Schrift oder Dogmen immer auch irren könnten. Die letzten Grundentscheidungen, durch die Menschen mit Hilfe der Gnade Gottes in der Wahrheit gehalten werden, sprechen sich immer u. notwendig in wahren Sätzen aus. Ohne solche ”Objektivationen“ ihres Bleibens in der Wahrheit würde die institutionell ”greifbare“ Kirche nicht in der Wahrheit bleiben. Wie jeder menschliche Satz ist auch das Dogma wegen der weitergehenden Geschichte des menschlichen Bewußtseins Mißverständnissen ausgesetzt, interpretationsfähig, entwicklungsbedürftig. Aber eine Satzwahrheit ist nicht nur eine nachträgliche Abbildung der ursprünglichen Wahrheit, sondern ein mit der menschlichen Sprache gegebener Mitvollzug der ursprünglichen Wahrheit, die letztlich die Selbstmitteilung Gottes ist.
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