Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Tradition
   (lat. = Überlieferung) in einem allgemeinen Sinn bezeichnet die Überlieferung, das Herkommen, das heißt die Gesamtheit aller Vorgänge, durch die in derMenschheitsgeschichte erworbene Einsichten, Fähigkeiten u. Institutionen (Bräuche usw.) übermittelt werden; von da her bezeichnet T. auch die Summe des so Überlieferten. Die positive Funktion der T. wird weithin darin gesehen, daß sie Kontinuität u. Identität des einmal Begonnenen u. als Wert Erfahrenen sichert, u. auch darin, daß sie Kriterien zur Einordnung u. Beurteilung von Neuem liefern kann. Sie ist ein unentbehrliches Element von Kultur u. so auch von Religion. ImATsind vielfältige Zeugnisse für Traditionen (Dichtungen, Rituale, Formelbildungen) erhalten. Die Sammlung mündlicher Überlieferungen in schriftlichen ”Objektivationen “ ist konstitutiv für den Glauben Israels u. der Kirche. Es war unumgänglich, daß das lebendige apostolische Kerygma sich spätestens von der zweiten Generation an u. angesichts der Probleme durch abweichende Interpretationen (”Irrlehrer“) zu einer Glaubenslehre entwickelte (Paradosis). Im Zusammenhang mit der Traditionssicherung wurde nach Maßstäben gesucht: Successio apostolica , Regula fidei . Ihr galten auch die Festlegung des biblischen Kanons u. die Entscheidungen von [c darkviolet]Synoden u. Konzilien. In den verschiedenen christlichen Kirchen entstanden unterschiedliche Einstellungen zur T. In den orthodoxen Ostkirchen bilden die Heilige Schrift, die Liturgien, die Entscheidungen der von ihnen anerkannten sieben Ökumenischen Konzilien u. der Konsens der [c darkviolet]Kirchenväter den Grundbestand ihrer T. Im röm.-kath. Bereich wurde vomMittelalter an die Auffassung vertreten, neben der in der Bibel schriftlich objektivierten Überlieferung des apostolischen Kerygmas existierten auch mündliche apostolische Traditionen. Die vielen im Lauf der Geschichte entstandenen kirchlichen Traditionen standen ebenfalls in hohem Ansehen. Die Reformatoren sahen die Rückgriffe der kirchlichen Autoritäten auf nichtbiblische Traditionen alsWillkür u. Gefährdung des Wortes Gottes an u. lehrten die kritische u. normative Autorität der Heiligen Schrift allein (Sola Scriptura ) über allen kirchlichen Institutionen u. Traditionen. In den aus der Reformation entstandenen Kirchen haben kirchliche Traditionen (z. B. Konzilien, Dogmen) unterschiedliche Geltung. In Reaktion auf die Reformation entstand im Gefolge des Konzils von Trient die kath. Zwei-Quellen-Theorie, wonach die göttliche Offenbarung teils in der Schrift, teils in der mündlichen T. enthalten sei (”partim-partim“). Diese Theorie wurde in der theol. Diskussion des 20. Jh. zunehmend in Frage gestellt. Das II. Vaticanum vermied eine klare Stellungnahme u. äußerte sich mit großer Vorsicht zur T. (Heilige Schrift ). Im Bereich der Ökumene setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jh. eine positive Bewertung der grundlegenden T. ein, die der Heilige Geist in der Kirche bewirkt u. die sich in Predigt, Sakramenten, Gottesdienst, Katechese, Mission, Theologie u. Glaubenszeugnis der Christen äußert, so daß das Thema der T. keinesfalls mehr kirchentrennend ist. – In der Gesellschaft verloren seit der [c darkviolet]Aufklärung diejenigen Traditionen ihre Autorität, die sich nicht mehr vor dem Forum der Vernunft rechtfertigen ließen. Der dadurch ausgelöste unaufhaltsame Prozeß führte zu den radikalen Traditionsbrüchen u. dem Wandel in denWertvorstellungen des 20. Jh. Kirchliche Kreise trugen ihrerseits dadurch zu diesem Prozeß bei, daß sie die Offenheit für nötige Veränderungen u. unbefangene Würdigung von Neuem vermissen ließen u. die Erstarrung im Gewesenen für eine göttliche Verpflichtung hielten. Die kirchliche Gegenwart bewegt sich zwischen den Extremen derer, die Fortschritt u. Veränderung um jeden Preis fordern u. für die das Neue schon deshalb gut ist, weil es nicht das Alte ist, einerseits u. der fundamentalistischen Traditionalistenbewegung anderseits.
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