Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Sünde
    ist ein spezifisch religiöser u. theol. Begriff (heute weitgehend säkularisiert), der die freie u. bewußte, also voll verantwortliche u. existentiell radikale Entscheidung gegen den eindeutig erkannten Willen Gottes bezeichnet. S. in diesem vollen Sinn ist nach kath. Sprachgebrauch ”schwere S.“ oder (von Joh 8, 21 u. 1 Joh 5, 16 f. aus) ”Todsünde“. Sie kann in Gedanken oder im Tun begangen werden. Begrifflich wird S. oft gleichbedeutend mit Schuld verwendet; es wäre im Interesse begrifflicher Klarheit, S. für den Akt selber u. Schuld für die daraus resultierende ”Schuldverhaftung“ vor Gott u. den Menschen zu reservieren.   1. Biblische Aussagen. Die das Sündigen betreffenden Texte u. mannigfaltigen Sündenbegriffe des AT setzen Kenntnis der Weisungen Gottes, Bewußtsein, Vorsätzlichkeit u. damit Verantwortung voraus. IhremWesen nach besteht die S. in der Verweigerung der Gottes- u. Nächstenliebe in ihrer Einheit oder in gegen sie gerichteten Handlungen. Als Hauptsünde gegen Gott erscheint die Verehrung fremder Götter, die als Bundesbruch gilt oder metaphorisch als Ehebruch bezeichnet wird (Tora, Dekalog). Die Überzeugung, daß jederMensch von seiner Geburt an ein Sünder ist (Ps 51, 7), teilt Israel mit der altorientalischen Umwelt, weil das gesamte Leben von einem Netz unzähliger Normen überzogen ist. Die gesellschaftliche Dimension wird so stark betont, daß von der S. des einzelnen Menschen nicht nur dieser unheilvoll betroffen ist, sondern auch seine Gemeinschaft. Gelegentlich begegnet die Auffassung, unbewußte Sünden seien möglich (Lev 4, 2 22 u. ö.). Innerweltliche Schicksalsschläge u. politische Katastrophen gelten als unmittelbar von Gott herbeigeführte Strafen für Sünden, doch bleibt Gott unter allen Umständen zur Vergebung bereit (Buße), für die in der Reue, in der Liturgie u. in der Fürbitte konkrete Wege eröffnet sind. Im NT begegnet bei Paulus die Unterscheidung ”der Sünde“ (griech. ”hamartia “) von der Sündentat (griech. meist ”parabasis“). ”Die S.“ wird, ebenso im Joh-Ev., als Macht personifiziert, die über die Menschen herrscht u. sie in ihrem Innern negativ qualifiziert (Röm 5, 12–21 u. ö.). Konkreter Ort der S. ist die Sarx; sie herrscht durch den Tod. Ein Sünder kann seine Unheilssituation nicht erkennen (Röm 7, 15), wohl aber seine Tatsünden. Die Befreiung von ”der S.“ geschah u. geschieht aus reiner Gnade, indem Gott dem Sünder die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit Gottes schenkt. Ein Vorkommen gehäufter Sünden von Glaubenden u. Getauften zieht Paulus nicht in Betracht. Die Lasterkataloge sehen den Abbruch der Gemeindebeziehungen mit ”schweren“ öffentlichen Sündern vor. Jesus wußte sich gesandt, nicht die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder (Mk 2, 17). Er verkündete den ohne weitere Vorbedingungen, auch ohne die Vorbedingung seines eigenen blutigen Todes, erbarmungsvollen Vater (Lk 15, 11–32), wobei der Sünder allerdings Einsicht in sein verkehrtes Tun hat, umkehrt u. vor dem Vater das Bekenntnis ablegt. Als (schwere) Sünde wird die Nicht-Annahme der Herrschaft Gottes verstanden. Die [c darkviolet]Bergpredigt zeigt die Konzentration der Gottesweisungen auf die Einheit von Gottes- u. Menschenliebe. Jesus bekämpfte die Vorstellung von der Sündhaftigkeit der kultischen Unreinheit. Die ”unvergebbare“ S. (Mk , 29 par.) visiert (ebenso wie Hebr 6, 4 ff.; 10, 26–29; 12, 16 f.) eine paradoxe, psychologisch undenkbare Erkenntnissituation an u. gehört zu den radikalen Drohworten, die den Ernst einer gegenwärtigen Entscheidungssituation hervorheben wollen. Nach Joh (vor allem Kap. 8 u. 9) besteht ”die S.“ im Unglauben. – Zur theol. Tradition. Im Zusammenhang mit der nicht eingetretenen Parusie wird die Beschäftigung mit faktisch eingetretenen Sünden für die alte Kirche immer dringlicher. Zunächst ist die Unterscheidung von öffentlichen u. geheimen Sünden wichtig; den ersteren gelten das Bußverfahren u. die Anfänge der Theologie des Bußsakraments u. der Genugtuung. Als Hauptsünden werden Mord, Götzendienst u. Ehebruch angesehen (wobei letzterer auchMetapher für Götzendienst sein kann u. in Verfolgungszeiten die Einwilligung in den Kaiserkult als Götzendienst gilt). Schon früh setzen im kirchlichen Westen u. vor allem im Osten die Bemühungen um ”Seelenführung“ ein (Kampf gegen Versuchungen durch Askese, Wachen u. Beten). Die biblischen Aussagen über ”die S.“ u. ihre Macht werden von Augustinus († 430) in die Theorie der Erbsünde eingebracht, verbunden mit einem Verständnis der Begierde, die unentwegt zum Sündigen verführe. Zu seiner Sündentheologie gehören die Beschreibung der Tat-S. als ”Abkehr von Gott“ u. ”Hinwendung zur Kreatur“ (”aversio a Deo“, ”conversio ad creaturam“) u. ihre neuplatonische Einordnung als ”Mangel an Gutem“. Zu den großen Erkenntnissen der scholastischen Theologie gehörte die Einsicht, daß es unbewußte u. unfreiwillige Sünden nicht gibt (Peter Abaelard †1142). Bei Thomas von Aquin († 1274), der die Sünden im Zusammenhang mit den Tugenden behandelt, werden die ”Todsünden“ (”peccata mortalia“) als Verlust der [c darkviolet]Heiligmachenden Gnade , der mit der ewigen Verdammung geahndet werde, von den ”läßlichen“ Sünden (”peccata venialia“) theol. scharf geschieden. Die Sündenauffassung M. Luthers († 1546) ist stark von Augustinus abhängig, doch nimmt sie ihren Ausgang nicht von der Ursünde, sondern von der Rechtfertigung. Im Unterschied zur röm.-kath. Auffassung, die den Sündenakten u. -arten zugewandt war, befaßte sich Luther nicht primär mit den einzelnen Todsünden, sondern mit der den ganzenMenschen prägenden, den freien Willen auslöschenden Sündigkeit, die zunächst nicht moralisches Versagen, sondern personaler Unglaube aus ”ererbter“ Selbstsucht u. Ichperversion ist (Simul iustus et peccator ). Das Konzil von Trient äußerte sich außer zu Erbsünde, Begierde u. Willensfreiheit auch zur Unterscheidung von Todsünden (wobei nicht jede Todsünde Glaubensverlust sei) u. läßlichen Sünden. Ferner lehrte es, daß der gerechtfertigte Mensch mit Hilfe der Gnade Gottes imstand sei, die Todsünde zu meiden. Der seit dem Mittelalter dominierenden Individualisierung des Sündenbewußtseins wirkt die Entdeckung der ”sozialen S.“ oder ”strukturellen S.“ durch die Befreiungstheologie entgegen.
   3. Aktuelle Fragen. Die aus der Redeweise von ”der S.“ bei Paulus u. Johannes stammende Auffassung von der – vor jeder Tatsünde bestehenden – Sündigkeit des Menschen vor Gott, der ”verkehrten Existenz“ usw., läßt sich darum schwer vermitteln, weil diese Sündigkeit, wie wenigstens S. Kierkegaard († 1855) u. K. Barth († 1968) meinten, nur aus dem Glauben erkannt werden kann. Auf welche Erfahrungen kann sich eine auf Sündigkeit bezogene Glaubenspredigt beziehen? Der Hinweis auf ungeschuldet zuteil gewordene Rechtfertigung bzw. Erlösung überzeugt denjenigen kaum, der nicht weiß, wovon er gerechtfertigt bzw. erlöst ist. Die kath. Definition der Todsünde spricht von einem klar u. eindeutig erkanntenWillen Gottes als der obersten Norm ethischen Verhaltens. Die Zweifel am Bestehen einer Todsünde oder gar an deren häufigem Vorkommen (wie das die übliche Beichtunterweisung nahelegt) entstehen zum Teil aus mangelhafter Erkenntnis oder aus fehlerhafter u. ungenügender Begründung einer bestehenden Norm. Schwer begründbar ist der engste Zusammenhang zwischen dem in seiner Existenz unter Umständen respektierten oder bejahten Willen Gottes u. dem ”Material“ aus der pluralen Wertewelt, an dem dieser Wille u. dem entsprechend auch das Nein gegen ihn konkret ”realisiert“ werden; die in der Tradition bezeichneten ”Materialien“ entstammen, wie schon die Übernahme stoischen Gedankenguts in die Tugend-u. Lasterlehre zeigt, häufig demjenigen, was in einer bestimmten Zeit u. Gesellschaft als öffentliche Norm gilt. Bei einer Mehrzahl von Gedanken-oder Tatsünden wird verneint, daß es sich um einen ”Bruch mit Gott“ handelt. Apodiktische Behauptungen wie diejenige, eine Handlung sei ”in sich“ schlecht, ersetzen eine Begründung nicht; ebenso wenig sinnwidrige Begriffsbildungen wie ”Stand der objektiven Sünde“. Das [c darkviolet]Theodizee-Problem wirft die ernstzunehmende Frage auf, ob der Gott der christlichen Tradition selber ethischen Kategorien standhalten kann.
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