Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Stellvertretung
   ist ein in Theologie u. Spiritualität mehrdeutig verwendeter Begriff, der einer klärenden Interpretation bedarf. St. im präzisen Sinn des Wortes meint nicht die Solidarität aller vor Gott oder das Eintreten des einen für den andern im fürbittenden Gebet (wenn Abraham mit Gott um die Verschonung der Stadt Sodom ringt, Gen 18, 23–3, dann ist das keine St.). St. bezeichnet auch nicht die Erwählung eines Menschen durch Gott, der ihn zugunsten anderer in Dienst nehmen will, damit durch ihn seine Heilsbotschaft verkündet u. wirksam werde. Religiös-theol. Abhandlungen über St. nehmen oft ganz andere Sachverhalte in Anspruch: Wenn Jesus sich als der Diener aller versteht, wenn er Sünder sucht u. sich ihrer annimmt, wenn Paulus sich für die Gemeinde aufreibt, dann ist auch alles das keine St. Eine im Glauben relevante St. ist im AT vom Knecht Gottes in Vergangenheitsform ausgesagt (besonders Dt-Jes 5, 12). Hier ist die Rede von der ”Strafe zu unserem Heil“, von Gott, der den Gottesknecht ”unser aller Schuld“ treffen ließ u. dem es gefiel, ”ihn mit Krankheit zu schlagen“. Der Gottesknecht trug ”die Sünde der vielen“. Eine solche Möglichkeit der St. sieht auch Paulus: Einer ist für alle gestorben (2 Kor 5, 14 f.); Gott hat den Sündlosen für uns zur Sünde gemacht (2 Kor 5, 21 f.); Jesus Christus hat sich für uns zum Fluch gemacht, um uns vom Fluch des Gesetzes loszukaufen (Gal , 13 f.). Elemente einer solchen urchristlichen Theologie der St. prägt auch die Formung der Becherdeutung beim Abendmahl nach Mk 14, 24, falls dort Bezug auf den dt-jesajanischen Gottesknecht genommen ist. Wenn hier St. im Sinn von ”stellvertretender Sühne“ gemeint ist, dann erhebt sich notwendigerweise die Frage nach dem Subjekt, das eine Sühne solcher Art in der Peinigung des Schuldlosen, ob blutig oder nicht, einfordert oder wohlgefällig annimmt. Ebenso muß bei Formulierungen wie ”Loskauf“, ”Lösegeld“ gefragt werden, wem dieser Preis stellvertretend entrichtet werden sollte (im christlichen Ernst kann ja wohl nicht der Teufel gemeint sein). Wenn es sich nicht um [c darkviolet]Anthropomorphismen handelt, wäre die ethische Qualität eines solchen göttlichen Subjekts zutiefst in Frage gestellt (Sühne). Bei der soteriologischen Redeweise vom ”Tausch“ zwischen Jesus Christus u. der Menschheit (Sterblichkeit – Unsterblichkeit) geht es im präzisen Sinn ebenfalls nicht um St. Die zunehmendeAblehnung der auf dem Gedanken der St. begründeten [c darkviolet]Satisfaktionstheorie Anselms von Canterbury († 1109) zeigt das deutlich. Neuere Interpretationen Anselms wollen dessen Konzeption dadurch ”retten“, daß sie erklären, bei der Genugtuung durch Jesus Christus gehe es nicht um die Ehre Gottes, sondern um die Ehre des Sünders, die durch Jesus Christus dadurch wiederhergestellt werde, daß er die Genugtuung des Sünders nicht ersetzt, sondern ermöglicht. Ein solches gnadenhaftes Wirken kann jedoch sachgerecht nicht als St. bezeichnet werden. Katholischerseits gibt es keine verbindliche kirchliche Lehre zur St. Die reformatorische Lehre vom stellvertretenden Strafleiden Jesu ist bis zur Gegenwart nicht ohne Widerspruch geblieben. In der neueren Theologie u. Ethik wird zunehmend eingesehen, daß alle relevanten Entscheidungen des Menschen, auch diejenigen, die er kraft der zuvorkommenden Gnade vor Gott realisiert, ihm von anderen nicht abgenommen werden können. Davon ist auch die religiöse Redeweise betroffen, die sagt, bei einer Taufe verträte das Glaubensbekenntnis der Paten dasjenige des unmündigen Säuglings. Ein stellvertretender Glaube ist nicht möglich. Wichtig ist das Bewußtsein der Verantwortung für andere (auch für die Schöpfung im ganzen), die jedoch nicht St. ist. Eine Sonderform des Gedankens der St. trug Dorothee Sölle vor: In der Zeit des Vermissens Gottes wäre Jesus als Vertreter des abwesenden Gottes zu verstehen.
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