Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Seele
   (griech. ”psyche“, lat. ”anima“). Das deutsche Wort S. (wohl vom altgermanischen ”saiwolo“ = vom ewigen See Herkommende) ist vieldeutig u. wird in mehreren Wissenschaften in unterschiedlichem Sinn gebraucht. In der theol. Sprache ist es ein fester Begriff mit einer Vorgeschichte in der platonischen u. aristotelischen Philosophie, während die biblischen Entsprechungen für das mit S. Gemeinte nur entfernt zu dieser Vorgeschichte gehören.   1. In der Schule Platons († 347 v.Chr.) wurden verschiedenartige Elemente archaischer Vorstellungen über die S. systematisiert, in einer Gegenbewegung gegen die landläufigeMeinung, wirklich sei nur dasjenige, was der sinnenhaften Erfahrung zugänglich ist. Die platonische Lösung besteht in einem Dualismus, nach dem die S. das geistige Selbst des Menschen sei, das in den Körper gleichsam wie in ein Gefängnis oder Grab zur Bewährung hineingebannt sei, die wesentlich darin bestehe, den Körper, seine Sinnlichkeit u. die daraus entstehenden Antriebe zu beherrschen u. das kollektive u. individuelle Leben entsprechend den ewigen geistigen Ideen zu gestalten. Die Einseitigkeit, die in dieser abwertenden Betrachtung des Materiellen u. Körperlichen liegt, mußte nicht zwangsläufig zur Weltflucht führen, da die Idee der Gerechtigkeit im Leben verwirklicht werden müsse u. alles Versagen ihr gegenüber nach dem Tod zu verantworten sei. So ist die Vorstellung, die S. sei unsterblich, engstens mit der Forderung nach Gerechtigkeit verbunden. Das Geschehen nach der Vernichtung der leiblichen Existenz wird bei Platon in der Gestalt des [c darkviolet]Mythos geschildert. – Platons Schüler Aristoteles († 322 v.Chr.) überwand den krassen anthropologischen Dualismus durch ein Denken der Bewegung oder Entwicklung vom Unbelebten zum vergänglichen Lebendigen, das unter dem Antrieb der dominierenden Idee des Guten zum Aufstieg zu Gott, der rein geistigen, ewig sich selber denkenden Wirklichkeit tendiert. Das nichtgöttliche Seiende ist nicht abgewertet, da es auf seine Weise (Analogie) am göttlichen Sein Anteil hat. Die Aufstiegsdynamik (Entelechie = Zielverwirklichung) des Nichtgöttlichen wird realisiert in einer gestuften Existenzweise der S., die für Aristoteles das Gestaltprinzip der [c darkviolet]Materie ist (Hylemorphismus): Die S. der Pflanzen wird tätig in deren Ernährung; die S. der Tiere hat Empfindungen, sie ist aktiv im Begehren u. in den Initiativen zur örtlichen Bewegung; die S. derMenschen ist durch Denken tätig, sie verfügt beherrschend über die mannigfachen menschlichen Möglichkeiten u. stellt so das Einheitsprinzip im Menschen dar; sie ist unsterblich. Neben diesem philosophischen System findet sich von der griech. Antike an immer wieder ein Trichotomismus, nach dem nur die Vital-S. des Menschen in materielle Zustände u. in die Geschichte verwoben ist, während die geistige S., oft auch einfach ”Geist“ genannt, der Materie enthoben die Aufstiege in die geistige Welt realisieren kann.
   2. Der Begriff der S. in der kath. Theologie ist das Ergebnis der Rezeption bestimmter (nicht aller) Elemente des platonischen u. aristotelischen Denkens, besonders systematisiert bei Thomas von Aquin († 1274). Dabei widerstand die offizielle Theologie, im Unterschied zu Äußerungen des Volksglaubens u. der Verkündigung, dem platonischen Dualismus; auch die Vorstellung einer Welt-S. im Neuplatonismus wurde kirchlich abgelehnt. Die Grundlage des kath. Denkens über die S. ist die Unterscheidung zwischen dem Seienden u. dem realen Seinsprinzip. Das Seiende ist durch eine Mannigfaltigkeit seiner Teile, Merkmale, Dimensionen usw. gekennzeichnet, erscheint aber zugleich als ein eines u. ganzes. Das ist der Grund dafür, warum von einem Wesen u. einer Existenz dieses Seienden gesprochen werden kann. Der innere Grund eines Seienden, der zugleich die Einheit garantiert u. die Pluralität von Eigentümlichkeiten zuläßt, heißt in diesem Denken Seinsprinzip. Nach kath. Tradition ist die S. ein Seinsprinzip des Menschen, zusammen mit einem zweiten, dem Materiellen. S. als Seinsprinzip besagt, daß die S. nicht etwas Selbständiges ist, das zu einer auflösbaren, ”äußeren“ Einheit mit dem Materiellen zusammengefügt worden wäre. Denn die S. stellt zusammen mit dem anderen Seinsprinzip des einen Menschen, der physikalischen Raumzeitlichkeit (der [c darkviolet]Materie), ein Seiendes dar, so daß beide Prinzipien zusammen den einen Menschen in substantieller Einheit bilden. Alle empirisch erfahrbaren Eigentümlichkeiten des Menschen sind zutiefst von dieser substantiellen Einheit der beiden Prinzipien geprägt. Der Leib ist nicht die bloß materielle Seite des Menschen, wie der Dualismus meint, sondern er ist der ”Ausdruck“ des Geistigen u. Personalen, er ist spezifisch menschlicher Leib. Und das Geistig-Personale des Menschen ist auf einen Lebensvollzug in Raum u. Zeit, in Geschichtlichkeit, auf Anschauungen, Bilder, Worte, Begriffe, Gesten (Körpersprache, non-verbale Kommunikation) angewiesen. Empirisch-konkret kommt immer nur der eine ganze Mensch vor. Allerdings wäre die Gesamtwirklichkeit ”Mensch“ nicht zutreffend u. umfassend genug erkannt, wenn der Mensch nicht als Person verstanden wäre. Das besagt: Jeder Mensch ist eine unvertauschbare Individualität, mehr als nur ein ”Fall“ einer allgemeinen Gattung; seine Erkenntnis ist mehr als nur Selbstorganisation im Bereich des biologisch Nützlichen. Er existiert mit der Gabe u. Aufgabe der Freiheit u. Verantwortung, so daß er mehr ist als nur ein austauschbares Funktionsteil in einer biologischen u. technisierten Gesellschaft. Die Theologie versteht den Menschen als offen für das Geheimnis Gottes (Transzendenz) u. damit auch als offen für die Wahrheit Gottes. Kurz: S. heißt das Prinzip dieses Menschseins, das es ”an sich“ ermöglicht, daß das Materielle, Raumzeitliche im Bewußtsein zu sich selber kommen kann, daß es sich in Verantwortung selber bestimmt u. das Bestimmtsein vom bloß Materiellen transzendiert. Das andere innere Prinzip des Menschen heißt Materie (Raumzeitliches, Biologisches, Fallhaftes, Gesellschaftliches), die nicht dasselbe ist wie der Leib, der schon jenes Eine ist, das aus den beiden Seinsprinzipien S. undMaterie zusammen konstituiert ist. Mit verschiedenartigen Umschreibungen sucht die kirchliche Lehre abzusichern, daß die personale Geistigkeit des Menschen nicht aus der Materie ableitbar ist (sie nennt die S. substantiell, weil sie nicht eine bloße Seinsweise einer anderen Wirklichkeit ist, u. einfach, weil sie nicht etwas Quantitatives ist, sondern sich erkennend zum Quantitativen verhält).
   3. In der ev. Theologie wurde nicht in diesem aristotelisch-thomistischen Sinn, sondern eher umgangssprachlich-unscharf von S. gesprochen, wobei S. als das Innere oder das Selbst des Menschen, als Organ der Einsicht von Sünde u. Vergebung, als Ort der Liebe u. der Hoffnung verstanden wird. Widerspruch erhob die ev. Theologie gegen die kath. Lehre von der Unsterblichkeit der S. Diese Lehre ergab sich aus den Überlegungen, daß eine von Gott geschaffene echte Wirklichkeit nie einfach untergeht, sondern allenfalls zu einer neuen Existenzweise verwandelt wird, ferner daß die S. als geistig-personales Seinsprinzip dem bloß Materiellen eigenständig (was nicht heißt: unabhängig) gegenübersteht u. nicht nur einMoment am Materiellen ist, so daß es nicht einfach mit einer bestimmten konkreten Erscheinungsform des Materiellen (z. B. dem Gehirn) identisch wäre u. mit dieser zusammen vergehen würde. So sehr das physisch-biologische Bewußtsein des Menschen durch den Tod radikal betroffen ist: Die Individualität eines Menschen u. damit die Identität seiner Lebensgeschichte hören bei Gott nicht auf zu sein, daher spricht die kath. Lehre der S. Unsterblichkeit zu, die in der neueren Theologie nicht als ”Weiterleben“ in der gleichen Art wie im früheren Leben gedacht wird, sondern als überzeitliche Vollendung dessen verstanden wird, was im irdischen Leben vielleicht nur keimhaft angelegt, vielleicht in fragmentarischen Freiheitsentscheidungen nur begonnen war. Aus der aristotelischthomistischen Auffassung, daß die S. zu ihrer Existenz auf die Aktualisierung in der Materie angewiesen ist, als Teilsubstanz ohne Materiebezug also nicht existieren kann, ergab sich in der neueren kath. Theologie die Meinung, daß im Tod eine Vollendung des ganzen Menschen geschenkt werde (vgl. 2 Kor 5,1–10), die mit einem umstrittenenWort als ”Auferstehung im Tod“ bezeichnet wird. Die Lehre von der Unsterblichkeit der S. führte in der Philosophie des Idealismus zu einem gegenüber Gott wie gegenüber der Natur triumphalen Überlebenspathos. Dagegen wandte sich die ev. Theologie in besondererWeise, da eine ”natürliche Unsterblichkeit“ die radikale Abhängigkeit des Menschen von Gott bestreite. Sie verweist dagegen auf eine ”dialogische Unsterblichkeit“, da nach einem Wort M. Luthers († 1546) derjenige, mit dem Gott geredet hat, in der Gnade oder im Zorn, in Wahrheit unsterblich ist. Darin liegt eine wichtige Möglichkeit ökumenischer Verständigung.
   4. Die biblischen Worte für dasjenige, was Philosophie u. Theologie als S. thematisieren, berühren eher nur Teilaspekte. Das Erste Testament spricht von ”nephesch“ (seltener von ”ruach“) als einer Lebensgabe Gottes, die Gott im Tod zu sich zurücknimmt, ohne daß der Verstorbene völlig zu existieren aufhörte (Scheol) . In dieser Gabe Gottes wird auch der Sitz von Gefühlen u. von Begehren gesehen. Diese Auffassung ist im NTerhalten, doch werden in der Verwendung von ”psyche“ auch griechische Vorstellungen deutlich (Mt 10, 28). Eine höhere Seelenkraft als die ”psyche“ ist das ”pneuma“, insofern dieses Wort nicht nur das heilige Pneuma Gottes, sondern auch eine geistige, zum Menschen von Natur aus gehörige Begabung bezeichnen kann.
   5. Zu der Erschaffung der einzelnen Menschenseele durch Gott: Kreatianismus, Selbsttranszendenz; weitere Fragen: Trichotomismus, [c darkviolet]Leib, Tod, Anschauung Gottes , Auferstehung der Toten , Parapsychologie . Segen, seinem Wesen nach eine Verbindung von Wunsch u. Bitte, oft mit einer Erinnerung an Gottes frühere Hilfe (Anamnese) u. mit Lobpreis verbunden. Nach uralter Tradition ist der S. oft formelhaft gestaltet. Der ”aaronitische S.“ (Num 6, 24–26) ist im Judentum u. Christentum besonders verbreitet, desgleichen der ebenfalls aus dem Judentum stammende Brauch eines Tischsegens. – Sakramentalien, Epiklese, Handauflegung . Sein, Seiendes. Das Seinsdenken der frühen griech. Philosophie (5. Jh. v.Chr.) befaßte sich mit dem ”hinter“ dem Vergänglichen u. Veränderlichen zu denkenden Ewigen u. Unveränderlichen. Dieses Denken findet bei Platon († 347 v.Chr.) genaueren Ausdruck in der Konzeption der ewigen Ideen, denen das wahre, unveränderliche Sein zukommt, während alles Veränderliche nur unvollkommen an ihnen teilhätte. In der aristotelischthomistischen Theologie ist der Begriff des Seins von ausschlaggebender Bedeutung zum Verständnis dessen, was mit Gott gemeint ist. In der theol. Erkenntnistheorie K. Rahners († 1984) findet diese ”klassische“ Sicht folgenden Ausdruck. Seiendes (lat. ”ens“; griech. ”to on“) ist alles das, von dem, wenn auch in unterschiedlicher Weise, gesagt werden kann, daß es ”ist“, dem also Sein zukommt, das nicht nichts ist. Steht ein Seiendes einem erkennenden Ich-Subjekt gegenüber, so heißt es Objekt (Gegenstand). Der Begriff des Seienden kommt also dadurch zustande, daß alle unterscheidenden Eigentümlichkeiten aller Gegenstände nicht im Begriff mit ausgesagt werden, daß der Begriff sie alle aber ”abdecken“ muß. Sein (lat. ”esse“, griech. ”to einai“) ist dann dasjenige, das etwas, das nicht nichts ist, zu einem Seienden macht. Wenn die menschliche Erkenntnis einen einzelnen Gegenstand erfaßt, dann kann sie sich einen ”Begriff“ davon nur machen, wenn sie auf die ursprüngliche Gesamtheit aller möglichen Gegenstände ”vorgreift“. ”Sein“ ist nicht ein nachträglich aus Einzelerfahrungen abstrakt gebildeter Begriff, sondern er bezeichnet einen ”Horizont“, innerhalb dessen alles Einzelne angetroffen wird. Ein erkennender Mensch ”weiß“ um diesen ”Horizont“ im allgemeinen nur unausdrücklich, unthematisch, in einer Art ”metaphysischer Erfahrung“. Diese beginnt dort bewußt zu werden, wo unendliche Liebe, Angst, Sehnsucht erfahren werden. Ohne das unthematische ”Wissen“ um den ”Horizont“ könnte die einzelne Erkenntnis nicht vergleichen, nicht in Beziehung setzen, nicht urteilen. Dieses Wissen ist also die ”apriorische“ Bedingung der einzelnen Erkenntnis von ”aposteriorisch“ gegebenen Gegenständen. Wendet sich die Erkenntnis unterscheidend u. verbindend (im urteilenden Denken) diesen Gegenständen zu, dann setzt die Erkenntnis einen gemeinsamenMaßstab voraus. Sie schafft ihn aber nicht, u. er wird erst ”anhand“ der zu erkennenden Gegenstände bewußt. Das ”Woraufhin“ dieses Vorgriffs, der die einzelnen Gegenstände ”apriorisch“ zugleich unterscheidet u. vereint, eines ”Vorgriffs“ des menschlichen Geistes, also der Erkenntnis u. der Liebe, auf die ursprüngliche Ganzheit jeder möglichen Erkenntnis u. Liebe, das ”Ziel“ also dieses Vorgriffs (Transzendenz) heißt: Sein. Wird die Bewegung des Denkens so verstanden, dann ist damit auch ausgesagt, daß dieses Sein als Ziel u. ”Horizont“ das unumgreifbar Unendliche ist. Denn wenn das Sein als endlich aufgefaßt würde, dann wäre es schon ”umgriffen “; es wäre innerhalb eines noch weiteren ”Horizonts“ gedacht, der seinerseits erst wirklich der ”Horizont“ des Seins schlechthin wäre. Das Seinsdenken kann also theoretisch in zweifacher Weise vorgehen. Zum einen: Sein kann als nachträglicher, abstrakter Begriff gebildet werden u. dasjenige bezeichnen, was von jedem einzelnen, endlichen Seienden verwirklicht wird. Um diesen Seinsbegriff geht es der Theologie nicht. Zum andern: Sein kann gedacht werden als das Sein schlechthin, dem ursprüngliche Unendlichkeit zu eigen ist. Auf dieses Sein weist die Transzendenz des Menschen in jedem Erkennen u. Lieben hin, ohne es als solches selber vorzustellen; es bleibt unumfaßbares Geheimnis. Dieses Sein schlechthin ist der Grund jeder Erkenntnis u. Liebe. Es ist darüber hinaus der Grund der Wirklichkeit jedes Seienden. Darum heißt es ”reiner [c darkviolet]Akt“ (”actus purus“), absolutes Sein schlechthin, absolutes Geheimnis. Es ist dasjenige, das ”alle Gott nennen“ (Thomas von Aquin).
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