Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Schriftsinne
   Die Frage, wie ein Schrifttext zu verstehen u. zu interpretieren ist, der zunächst als dunkel erscheint, ist weder spezifisch christlich noch geht sie auf das Interesse der Neuzeit zurück. Bereits im Rahmen des gläubigen Judentums (1. Jh. v.Chr.) wurden genaue Regeln der Interpretation der Bibel formuliert, die darum besonders wichtig waren, weil in der Schrift Gott als der Redende auftritt u. es als vorrangig erschien, seinen Willen u. seine Weisungen genau zu erkennen, auch wenn ein Text nicht unmittelbar zugänglich war. Bestimmte konkrete Einzelheiten der Erzählungen wurden daraufhin befragt, welcher Sinn über den Wortlaut hinaus noch in ihnen verborgen sein könne. Der jüdische Exeget u. Philosoph Philon von Alexandrien († um 50 n.Chr.) griff auf Deutemöglichkeiten zurück, die sich in der griech. Exegese Homers eingebürgert hatten: Hinter dem ”Wortsinn“ suchte er nach einem darin verborgenen ”physikalischen“ u. einem ”ethischen“ Sinn (Allegorie). Paulus u. andere Verfasser des NT zeigen, wie das frühe Christentum bestimmte Aussagen des AT auf Jesus Christus beziehen wollte (Beispiel: der Felsen, aus dem Mose Wasser schlug, war ein ”geistlicher Felsen“, u. dieser war Christus, 1 Kor 10, 4; Typos). Origenes († 253) erarbeitete auf der Basis der neuplatonischen Philosophie den dreifachen Schriftsinn: Hinter dem buchstäblichen Wortsinn (von ihm ”somatisch“ genannt) nahm er einen moralischen (”psychischen “) u. allegorischen (”pneumatischen“) Sinn an. Schon Origenes u. dann vor allem Augustinus († 430) betonten die Konstante des kirchlichen Bibelverständnisses als Auslegungsnorm(Regula fidei ).Wie schon Johannes Cassian († um 430) nahm die mittelalterliche Theologie einen vierfachen Schriftsinn an: Literalsinn (wörtliche Auslegung), allegorischer Sinn (dogmatische Interpretation), tropologischer Sinn (ethischer Gehalt), anagogischer Sinn (eschatologische Bedeutung). Die Reformatoren (u. schon Erasmus von Rotterdam †1536) mißtrauten den Schriftsinnen; für M. Luther († 1546) war nur die Auslegung relevant, die auf Jesus Christus hinwies. Dabei verließ er sich darauf, daß die Schrift sich selber interpretiert. Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelwissenschaften war das Ende der bisherigen Lehren von den Schriftsinnen gekommen (Hermeneutik) . Relikte bestehen bis zur Gegenwart dort weiter, wo Prediger ”fromme“ Anwendungen von Schrifttexten ohne jeden Verständnishorizont zu geben versuchen. Eine neue Art von Textzugängen erhebt aus den Bibeltexten ”mehr“, als der historisch-kritisch erforschte Wortsinn zunächst hergibt: die ”materialistische“ (sozialgeschichtliche) Interpretation, die weiterführende Impulse zu einer umfassenden Befreiung aus dem aktuellen sozio-kulturellen Kontext der Bibelleserinnen u. -leser zu gewinnen sucht (so auch die feministische Exegese); die tiefenpsychologische Interpretation, die Bibeltexte so wie Märchen u. Träume in den Dienst einer befreienden Selbsterfahrung stellen will; die linguistische Interpretation, die vor allem durch sprachwissenschaftliche Analysen von Erzählstrukturen u. Symbolen die Regeln von Kommunikationsprozessen zu verstehen sucht. Wenn sich dabei auch keinerlei Konsens abzeichnet, so ist doch zu konstatieren, daß den Mythen, Metaphern u. Allegorien eine viel positivere Wertung zuteil wird, als dies in der historisch-kritischen Auslegung der Fall ist.
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