Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Religion
   (lat., sprachliche Bedeutung nicht geklärt, im Altertum von ”relegere “ = sorgfältig wahrnehmen, oder ”religare“ = zurückbinden, abgeleitet), ein für Interpretationen offener, nicht festgelegter Begriff, oft als ”Umgang mit dem Heiligen“ definiert, wobei ”Umgang“ eine große Bedeutungsbreite haben u. theoretische, ästhetische u. ethische religiöse [c darkviolet]Akte umfassen kann. Bei lat. Kirchenvätern wurde ”religio“ (z. B. bei Cicero †43 v.Chr.) im Sinn von Gottesverehrung übernommen u. als weisheitliche Lebensgestaltung vor Gott verstanden. Nach Thomas von Aquin († 1274) hat R. die Aufgabe, die Hinordnung des Menschen auf Gott zu tragen; für ihn sind alle, die nach dem ”Gott“ genannten Grund u. Ziel der Welt fragen, ”religiös“.   1. Zur Geschichte. Bis zur Neuzeit wurde R. mit dem christlichen Glauben identifiziert. Die Beschäftigung mit Religionen orientierte sich an der Unterscheidung der wahren R. von den falschen Religionen. Nach ersten Ansätzen (z. B. bei Nikolaus von Kues †1464) begann erst im Zusammenhang mit der Aufklärung eine reflektierende Beschäftigung mit der Vielfalt der Religionen. Sie alle wurden von der Vernunft als Bewertungsmaßstab her beurteilt, so daß der Oberbegriff der ”natürlichen R.“ entstehen konnte. Parallel dazu entstand eine [c darkviolet]Religionskritik, die z.T. die ”unvernünftigen Elemente“ einer R. aufzudecken suchte, z.T. im Namen der Vernunft R. überhaupt bekämpfte; an deren Stelle sollten moralische u. künstlerische Anstrengungen treten. In konstruktiver Reaktion darauf entstand die bis zur Gegenwart wirksame Tendenz, R. als ursprüngliche, alle menschlichen Vollzüge umfassende Sinndeutung zu verstehen. In der Apologetik u. späteren Fundamentaltheologie existierte das Bemühen fort, Besonderheit u. Überlegenheit des Christentums als R. zu begründen. Im 20. Jh. äußerte sich dies von den Gedanken her, daß Gott selber sich zur Menschheit in Selbstmitteilung verhält, wobei er die Bedingungen des Hörenkönnens auf sein Wort selber schafft u. seine Selbstmitteilung geschichtlich unwiderruflich u. endgültig in Jesus zur Erscheinung gebracht hat. Aufgrund dieser Inhalte wird ein wesentlicher Unterschied des Christentums von anderen Religionen ausgemacht, der dazu berechtige, nur das Christentum als legitime R. zu verstehen. Solchen in der kath. u. ev. Theologie (bis heute) vertretenen Tendenzen gegenüber trat eine ev. Religionskritik ”von innen“ entgegen. K. Barth († 1968) verstand die christliche Offenbarung als Gericht über alle Religionen, die er als gottfeindliche Konstrukte desMenschen ansah, der sich gegenüber Gott selber rechtfertigen u. behaupten wolle. Von D. Bonhoeffer († 1945) her zeigte sich das Bestreben, die R. des Theismus als Inanspruchnahme Gottes zur Erklärung der Welt, als Behauptung eines aktiven Weltregiments Gottes (in Vorsehung) u. als ideologische Stütze bestehender Verhältnisse abzulehnen. Statt dessen wird ein ”reiner“, oft liturgie- u. gebetsloser Glaube u. vor allem der Weltdienst eines ”religionslosen Christentums“ in Solidarität mit allen Leidenden u. Benachteiligten gefordert. In der theol. Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen wurde ihnen die Anstrengung zur ”Bewahrheitung“ des Glaubens in der Praxis nicht vorgeworfen, aber darauf hingewiesen, daß sie sich nur der Tradition einer institutionellen R. verdanken, sich unvermeidlich gesellschaftlich artikulieren müssen u. damit selber wieder Religionsgemeinschaft werden wollen.
   2. Einige aktuelle Fragen. Auch nach dem Entstehen wissenschaftlicher Disziplinen, die sich einzelnen Religionen u. religiösen Phänomenen zuwenden, verstummt bis zur Gegenwart die Frage nach den Gemeinsamkeiten in allen Religionen nicht. Werden sie im ”Umgang mit dem Heiligen“ gesehen, dann können sie alle Spielarten religiöser Erfahrung umfassen, alle Philosophien, die ”das Göttliche“ nicht zu thematisieren wagen, alle Deutungen des Heiligen als des personalen Gottes wie auch alle nicht-personalen Auffassungen des Heiligen. Die Praxis der R. vor allem in Gestalt der Mystik hat eine nicht hinterfragbare Selbstevidenz. Das II. Vaticanum sah die Gemeinsamkeiten darin, daß die Religionen Antworten ”auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins“ u. auf die ”Unruhe des menschlichen Herzens“ suchen (NA 1f .), u. daß in ihnen ”eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt u. den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist“, gegeben sei (NA 2 ). Wenn auch frühere Polarisierungen gegen ”falsche Religionen“ hinter dem Bekenntnis zum universalen Heilswillen Gottes u. zu den Heilsmöglichkeiten außerhalb des kirchlichen Christentums zurückgetreten sind, so ist doch die theol. Frage noch offen, ob die Nichtchristlichen Religionen als legitime, d. h. von Gott selber gewollte Heilswege angesehen werden können (vgl. auch Absolutheit des Christentums , Anonymes Christsein ). Das Entstehen einer weltanschaulich plural differenzierten Gesellschaft hat die gesellschaftlichen Stützen von R. abgeschwächt u. die R. so stark in den Sektor des Privaten abgedrängt, daß heute auch nach der Wahrheit einer R. eher individuell-privat gefragt wird.
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