Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Pluralismus
   (lat. = Vielfalt bestehender Auffassungen) bezeichnet, vom einzelnen Menschen u. seiner Lebenswelt ausgesagt, die Tatsache, daß ”der Mensch“ selber, sein Daseinsverständnis u. seine Lebenswelt aus so verschiedenartigen Wirklichkeiten gebildet sind, daß die menschliche Erfahrung aus unterschiedlichen, nicht einheitlich zusammenspielenden Quellen herkommt u. daß ”der Mensch“ diese Vielfalt weder theoretisch noch praktisch auf einen einzigen Nenner bringen kann (zu einem ”System“ zusammenfügen kann), von dem aus er diese Vielfalt ableiten, verstehen u. beherrschen könnte. Die Überzeugung von einer allen Wirklichkeiten zugrundeliegenden Einheit in Gott u. der Bestimmung aller Dinge auf Gott hin ändert an diesem unaufhebbaren u. kreatürlich unvermeidbaren P. nichts. So spricht man heute von einem P. derWeltanschauungen, einem wissenschaftlich-methodologischen, ethischen, kulturellen, politischen P. Da dieser P. in der ganzen menschlichen Lebenswelt gegeben ist, prägt er auch den gesellschaftlichen Bereich. Aus dem P. geht die ethische Grundforderung der Toleranz hervor, u. aus ihm ergibt sich auch, daß es keine einzige endliche Instanz geben kann u. darf, die alle gesellschaftlichen u. individuellen Vorgänge steuert. Auch die Kirche kann prinzipiell nicht als eine solche oberste, über alles verfügende Instanz betrachtet werden. Gott hat in seiner alle pluralenWirklichkeiten umgreifenden u. einendenMacht u. in seiner Verfügung über das Ganze keinen Stellvertreter, weder den Staat noch die Kirche. Es gibt (auch nach dem Ende des Sozialismus) im gesellschaftlichen u. ökonomischen Bereich das Postulat eines P., mit dem keineswegs die individuellen Rechte der Person ([c darkviolet]Menschenrechte) geschützt werden sollen, sondern der bestimmte Interessengruppen vor Veränderungen zugunsten der Allgemeinheit schützen soll. In der kath. Kirche wurde ein solcher gruppenegoistischer P. abgelehnt u. eine legitime Sozialisation gefordert (II. Vaticanum GS 6 , 25 , 42 , 75 u. ö.). – Der heutige Pluralismus der Theologien ist nicht einfach mit dem früheren Nebeneinander verschiedener theol. Schulen identisch. Selbstverständnis (Kontextuelle Theologie ), Denkmodelle, Methoden, Zielsetzungen usw. existieren so unterschiedlich u. unvereinbar nebeneinander, daß ein gemeinsamer Verständnishorizont, der wenigstens stillschweigend anerkannt wäre u. innerhalb dessen eine sinnvolle Diskussion möglich wäre, faktisch oft nicht mehr besteht. Daß die kirchliche Leitungsinstanz in dieser pluralen Situation wenigstens die Einheit des Bekenntnisses fordert, ist verständlich u. legitim. Aber die Realisierung dieser Forderung wird dadurch erschwert, daß das Lehramt selber das Bekenntnis formuliert u. sich dabei für eine bestimmte theol. Sprache aufgrund einer bestimmten Theologie (die eine von vielen sind) entschieden hat. In dieser Situation muß die kirchliche Leitungsinstanz in erheblich größerem Umfang als früher den theologisch Tätigen die Verantwortung dafür überlassen, daß sie sich selber ehrlich in Übereinstimmung mit dem kirchlichen Bekenntnis befinden.
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