Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Naturwissenschaften und Theologie
   1. Geschichtliches. Erste Konflikte zwischen N. u. Th. ergaben sich aus der Verdrängung des geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische, die kirchlicherseits alsWiderspruch gegen die Offenbarung Gottes aufgefaßt wurde, u. im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung von Deismus u. Theismus (Aufklärung), als Eingriffe Gottes in den Ablauf der Naturgesetze durch Vorsehung u. Wunder geleugnet wurden. Im 19. Jh. verbanden sich Materialismus u. Determinismus mit der naturwissenschaftlichen Theorie der [c darkviolet]Evolution zu einer generellen Infragestellung der Religion. Zwei Eigentümlichkeiten des naturwissenschaftlichen ”Selbstbewußtseins“ schienen einen nicht revidierbaren Bruch zwischen ”wissenschaftlichem Weltbild“ u. religiösem Glauben zu markieren: Die Abweisung der Wesensfrage ”Was ist das?“ u. die Beschränkung der Forschung auf das Existierende u. Machbare einerseits u. die Vorstellung, es werde den Naturwissenschaften gelingen, alle ”Welträtsel“ zu lösen, anderseits. Im Lauf des 20. Jh. wurde mindestens diese zweite Meinung aufgegeben, die erstgenannte Position wurde zu einer ”offeneren“ verändert. Die Naturwissenschaften differenzierten sich immer mehr, u. mit den wachsenden Forschungsmöglichkeiten wuchsen die Aufgabengebiete, auch mit der Einsicht in immer neue unbeantwortbare Fragen u. in die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit. Die Theologie machte ihrerseits einen grundlegenden Wandel in ihrem Verhalten gegenüber den Naturwissenschaften durch, an dem K. Rahner († 1984) einen bedeutenden Anteil hatte. Gerade von seinem Hinweis auf Gottes absolute Transzendenz her, die es verbietet, Gott in die Reihe innerweltlicher Ursachen (Kausalität) einzuordnen, u. die verlangt, ihn als Grund zu denken, war es möglich, den legitimen ”methodologischen Atheismus“ (J. Lacroix) der Naturwissenschaften anzuerkennen. Die Schöpfungstheologie lernte, ihre Vereinbarkeit mit der Theorie der [c darkviolet]Evolution an verschiedenen Einzelthemen zu erproben, wobei sich der Rahnersche Begriff der Selbsttranszendenz als dialogfähig erwies: Verhältnis von Materie u. Geist, Hominisation (Erschaffung des Menschen ), Eigenart u. Einheit von Seele u. Leib. In der Dogmen- u. Theologiegeschichte fand die philosophische Erkenntnis der Geschichtlichkeit eingehende Berücksichtigung. In der Praktischen Theologie u. Moraltheologie wurden wissenschaftliche Erkenntnisse der Pychologie u. Tiefenpsychologie positiv verarbeitet. In Exegese u. Kirchengeschichte wurden alle erprobten Methoden der Geschichtswissenschaften angewandt. Grundsätzliche Wissenschaftsauffassungen wurden auch in der Theologie übernommen (Sprachtheorie und Theologie , Nachprüfbarkeit, Konsensfindung usw.). Am Ende des 20. Jh. existierte eine intensive Zusammenarbeit von N. u. Th. in den Bereichen der Umweltethik u. der medizinischen Ethik (Bioethik, Gentechnologie, Verantwortung für das Leben u. einen menschenwürdigen Tod). Gespräche von Theologie, Zoologie, Biologie u. Neurologie (Gehirn- u. Seelenforschung) sind im Gang; die Weiterentwicklung der Physik stellt die theol. Auffassung von Entstehung u. Entwicklung des Kosmos vor neue Aufgaben.   2. Systematisch-theol. Perspektiven. Die früheren Konflikte zwischen N. u. Th. sind bei Einhaltung der durch die jeweilige Fragestellung u. Methode beiden Seiten vorgegebenen Grenzen prinzipiell vermeidbar. Soweit N. u. Th. im einzelnen Aussagen über denselben Gegenstand (wenn auch mit verschiedenen Methoden u. unter verschiedenen Aspekten) machen, kann es immer wieder zum Anschein einer Unvereinbarkeit kommen. Hier ist es vor allem auf seiten der Theologie u. noch mehr der Kirchenleitungen durch Mangel an Geduld u. Selbstkritik zu voreiligen Erklärungen gekommen, die vermieden werden können. Schwieriger ist es, Begegnungen u. Synthesen der beiderseitigen ”Weltgefühle“ herzustellen. ”Weltgefühle“ in diesem Sinn ist ein Sammelbegriff für die Summe der unmittelbar zur Verfügung stehenden, auch affektgebundenen, als selbstverständlich angenommenen u. als tragend empfundenen Wissensinhalte. Sie ergeben sich, wenn ein Mensch sich lebenslang ”beruflich“, spezialisiert u. intensiv nur mit einer Wissenschaft befaßt. Die Diskrepanz (was nicht heißt: sachliche u. logische Widersprüchlichkeit) u. gegenseitige Fremdheit der ”Weltgefühle“, zumal wenn ein Mensch der Naturwissenschaften nur gefühlsmäßig ”irgendwie“ religiös u. ein Mensch der Theologie gefühlsmäßig dem alten Weltbild u. Theismus verhaftet ist, sind meist eine Folge des heutigen unvermeidlichen Pluralismus u. daher in Geduld u. Toleranz zu ertragen. Diese ihrerseits können durch Vermehrung der Begegnungen gefördert werden; auch kann jede Wissenschaft sich aufmerksamer den Fragen u. Themen zuwenden, die über sie selber hinausweisen. In religiös-theol. Sicht kann ein Mensch der Naturwissenschaft legitimerweise nicht grundsätzlich religiös uninteressiert sein, da er nicht der Mensch ist, der er sein soll, wenn er ”nur“ Naturwissenschaftler ist. Ein Mensch der Theologie hat seine Rede von Gott so zu formulieren, daß seine tiefe Gemeinsamkeit mit demMenschen der Naturwissenschaft zum deutlichen Ausdruck kommt: Beide stehen vor dem unerforschlichen u. unverfügbaren Geheimnis, das die Welt u. Erkenntnis beider umfaßt, ohne beide einzuengen u. ohne das Erforschbare von vornherein einfach als unerforschlich zu erklären.
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