Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Natur und Gnade
   1. Geschichtlich. Der biblische Begriff für Gnade ist nicht abstrakt, u. ein Begriff für Natur fehlt in der Schrift. Insofern alle Aussagen der Schrift das ”Heilshandeln“ Gottes sowohl in der [c darkviolet]Schöpfung als auch in der Glaubensgeschichte bezeugen, liegt der Schrift ein ”rein natürliches“ Verständnis der Natur fern. Die Kirchenväter gingen davon aus, daß die biblische Urgeschichte einen historischen Ablauf wiedergeben wolle; sie unterschieden daher die Stände desMenschen von einander (Stand in der Heiligmachenden Gnade – Stand der ”gefallenen Natur“ – Stand der aus Gnade u. Vergebung wiederhergestellten u. erhöhten Natur). Schon früh (Irenäus von Lyon † um 202, Origenes † um 253) tritt der Sache nach die Unterscheidung von N. u. G. insofern in Erscheinung, als gelehrt wird, Gott als Schöpfer sei dem Menschen die [c darkviolet]Vergöttlichung nicht ”schuldig“. Augustinus († 430) war mit seiner Lehre, daß derMensch ständig u. in jeder Hinsicht auf die Gnadenhilfe Gottes angewiesen sei, in seiner Bekämpfung des Pelagianismus mit verantwortlich dafür, daß sich der Begriff der Natur theol. profilieren konnte. Thomas von Aquin († 1274) systematisierte die bisherigen Auffassungen in seiner Lehre von der Anschauung Gottes , die Gott dem Menschen nicht schuldig ist u. sie ihm aus Gnade allein gewährt (das Übernatürliche), die aber doch auf einem ”natürlichen Verlangen“ (Desiderium naturale ) gründe u. die deshalb natur-gemäß u. nicht natur-widrig sei, weil demMenschen die [c darkviolet]Gottebenbildlichkeit geschenkt worden sei. Die damit gelehrte ”Kontinuität“ von N. u. G. wurde durch die Reformatoren unter sehr starker Betonung derMacht u.Wirkungen der Sünde radikal bestritten (Natürliche Theologie ). In innerkath. Auseinandersetzungen nach dem Konzil von [c darkviolet]Trient (Gnadensysteme, Bajanismus, Jansenismus) traten, vorsichtig gesagt, Tendenzen zutage, aus dem Angewiesensein des Menschen auf die Gnade Gottes zu schlußfolgern, Gott sei dem Geschöpf die Gnade schuldig, der Mensch habe ein Recht auf sie allein aufgrund seiner geschaffenen Existenz. In Reaktion darauf entstand die Theorie des Extrinsezismus, die kirchlich-amtlich begünstigt wurde: Um das ”Ungeschuldetsein“ des ”Übernatürlichen“ zu wahren, wurde die Natur als in sich stehende, auch ohne jede Gnade sinnvolleWirklichkeit behauptet. Diese Theorie wurde in der Erneuerung der Gnadentheologie im 20. Jh., die zu einem kath.-dogmatischen Konsens führte, revidiert.   2. Systematisch. ”Natur“ ist die von Gott gewirkte absolute, dialogische Verfügbarkeit des Menschen auf Gott hin. Die Schöpfung kann in einer bloßen Theorie so gedacht werden, daß die Selbstmitteilung Gottes an die Kreatur, also seine Selbstgabe in der Gnade, nicht der eigentliche Sinn der Schöpfung wäre. In einer so gedachten Schöpfung wäre die Natur des Menschen dann eine ”reine“, bloße Natur (”natura pura“). Wenn in der Theologie hypothetisch eine solche Theorie in Erwägung gezogen wurde, dann besagt das nicht, daß diese reine Natur jemals als solche existiert hätte, u. auch nicht, daß sich jemals ein Mensch als reine Natur erfahren kann. In der konkret von Gott verwirklichten Schöpfung ist die ”Natur“ des Menschen so geschaffen, daß Gott dadurch die Möglichkeit einer Selbstmitteilung an das Nichtgöttliche in Liebe hat. Somit steht jeder Mensch unter dem Anruf der Gnade Gottes (Existential), wobei Gott liebend u. vergebend ihm die Möglichkeit des Ja zu diesem Anruf schenkt, u. nur im Ja zu diesem Anruf Gottes findet die ”Natur“ des Menschen ihr wirkliches Ziel. Konkret ist daher überall, auch bei Nichtchristen, mit der wirksamen Gegenwart der Gnade Gottes zu rechnen. Konkret sind Programme u. Aktivitäten von Nichtchristen nie als bloße Produkte einer ”reinen Natur“ anzusehen. Wenn die Theologie an der Lehre von der Möglichkeit der Sünde festhält, dann kann sie Sünde nicht als Rückfall in die bloße Natur verstehen.Wenn sich einMensch dem Angebot Gottes schuldhaft versagt (was dunkel bleibt, weil der Einfluß Gottes auf die menschliche Freiheit nicht berechnet werden kann), dann bewahrt er nicht seine Natur, sondern er verdirbt sie.
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