Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Natur
   (lat. = das Entstandene; griech. ”physis“ = das Gewachsene) umfaßt als Begriff verschiedene Sachverhalte: N. bezeichnet das Ganze desjenigen Seienden, das nicht durch Bearbeitung (z. B. Technik, Kunst) entstanden ist, u. zwar das Ganze in seinem Bestand u. in seinem Werden (Wachsen); in Übertragung dieses Verständnisses in die Theologie bedeutet N. die Schöpfung; ferner besagt N. das Wesen, also die bleibende, nicht eigentlich zusammensetzbare, sondern als ursprünglich eine Setzung zu begreifende Struktur eines Seienden, insofern sie der Grund u. die vorgegebene Norm seines Handelns (u. so der Ursprung des Sittengesetzes u. die Voraussetzung der Kultur ist); schließlich ist N. in der theol. Systematik ein Gegenbegriff zu Gnade.   1. Philosophisch. Bei den ”Vorsokratikern“ (6. Jh. v.Chr.) ist ”physis“ der Begriff für das Sein u. umfaßt das Ganze des Seienden. Bei Aristoteles († 322 v.Chr.) ist ”physis“ (vom Hergestellten unterschieden) das ”Selbstanfängliche“, das auch sein Ziel (Entelechie) in sich selber hat. Von Augustinus († 430) an wird N. als von Gott, dem transzendenten Grund, vernünftig geordnete Schöpfung verstanden. In der Neuzeit begegnet (etwa bei B. de Spinoza †1677) eine Form des [c darkviolet]Pantheismus, bei dem Gott nicht transzendenter Grund verbleibt, sondern die hervorbringende N. (”natura naturans“) selber ist u. so ”von innen“ die hervorgebrachte N. (”natura naturata“) begründet. Freilich ist auch die neuzeitliche Philosophie von der naturwissenschaftlichen Sicht auf die N. beeinflußt; so nennt I. Kant († 1804) die N. das Dasein der Dinge, ”sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“ (Naturgesetze), Gegenstand von Hypothesen (griech. = zunächst unbewiesene Annahme) u. Experimenten. Bei G. W. F. Hegel († 1831) ist die N. dasjenige, wohin der Geist sich frei ”entäußert“, ein notwendiger, aber nur vorübergehender Ort des Ausgangs aus sich selber um der Rückkehr willen. K. Marx († 1883) sah in dieser uneigentlichen Auffassung von N. einen Ausdruck der [c darkviolet]Entfremdung u. formulierte die Zielvorstellung einer Gesellschaft, in der die wahre ”Wesenseinheit des Menschen mit der N.“ wiederhergestellt sein würde. Sofern die gegenwärtige Philosophie sich mit N. befaßt, sucht sie nicht nach dieser ”Wesenseinheit“, wohl aber nach einer Formulierung des Verhältnisses vonMensch u. N., in dem die N. nicht als verfügbaresObjekt des Menschen erscheint.
   2. Ethisch: 3Ökologie, Umwelt.
   3. Theologisch. In der kath. Dogmatik spielt der Begriff der N. zum einen in der [c darkviolet]Gnadenlehre u. im ökumenischen Gespräch eine Rolle: Natur und Gnade ; zum andern dient er der Bestimmung des ”Wesens“ des Menschen im Hinblick auf seine Stellung innerhalb der Schöpfung. In dieser zweiten Hinsicht gehört der Mensch zur ”Natur im ganzen“, zur Schöpfung, nimmt teil an deren Sinnhaftigkeit u. Eigenständigkeit, die von Gott gewollt sind u. getragen werden, u. nimmt dennoch innerhalb (nicht ”über“) der N. eine Sonderstellung ein. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß die Naturhaftigkeit eines Seienden im gleichen Maß mit der ”Nähe“ zur schöpferischen Ursächlichkeit Gottes wächst u. nicht mit wachsender Nähe unterdrückt wird u. abnimmt. Die N. kann bei allem nichtmenschlichen Seienden als ”geschlossen“ aufgefaßt werden, das heißt, daß sie, was ihre Beziehung in ihrem ”Wesen“ u. damit in ihrem Handeln auf eine bestimmte, begrenzte Umwelt hin angeht, entweder überhaupt nicht ”bei sich“ ist u. so sich selber auch nicht zum Gegenstand des eigenen Handelns machen kann (wenn ihr Selbstbewußtsein u. Selbstorganisation fehlen), oder daß sie nur auf einen endlichen Kreis von Wirklichkeiten, die der biologischen Selbstentfaltung dienen, ausgerichtet ist (Instinkt, Selbsterhaltungs- u. Arterhaltungstrieb). Ist diese N. aber ”offen“, das heißt, ist sie durch die absolute Transzendenz des Erkennens u. Wollens über jedes Einzelne (über jeden Gegenstand, jede Beziehung) hinaus auf die ”Wirklichkeit schlechthin“ u. damit auf Gott ausgerichtet, dann kann sie sich selber ”vergegenständlichen “, sich als Subjekt (als Ich oder Selbst) erkennen u. sich zum Gegenstand ihres Tuns machen. Damit ist gesagt: In diesem Fall ist die N. ”personal“ u. sie steht in einem dialogischen Verhältnis zum absoluten, geheimnishaften Grund des Ganzen aller Wirklichkeit, zu Gott. Die Einsicht in diese ”Offenheit“ gerade der menschlichen N. müßte verhindern, daß auf sie ein nur biologischer Naturbegriff angewandt u. eine angeblich bekannte, unveränderliche N. des Menschen behauptet wird, die eine humane, in Freiheit verantwortete Gestaltung der eigenen N. unterbinden soll (wie das manchmal bei der kirchlich-amtlichen Forderung nach ”naturgemäßem “ Verhalten der Fall ist). – Der dogmatische Begriff der N. ist in der Lehre von der Hypostatischen Union von Bedeutung, in der gesagt wird, die beiden ”Naturen“, Gottheit u. Menschheit, seien durch den göttlichen Logos zur ”Person“ Jesus Christus geeint. Diese Lehre ließ die Frage aufkommen, warum die menschliche N. Jesu nicht auch als [c darkviolet]Person verstanden werde (Nestorianismus). Der Grund kann folgendermaßen angegeben werden. Wenn sich eine geistige N. in ihrer Offenheit durch die Tat Gottes an ihr so in Gott hinein ”transzendiert“, daß sie absolut Gott übereignet ist, in ihrem Sein u. Tun schlechthin Gott gehört, so daß ihre Transzendenz also gewissermaßen nicht im stets unvollendeten u. von sich aus nicht vollendbaren ”Anlauf“ steckenbleibt, dann wird eine solche N. im kirchlich-christologischen Sprachgebrauch nicht ”Person“ genannt. Bei dieser (einzigartigen) N. sind ja ihr Selbstvollzug u. ihre Eigenwirklichkeit im schlechthin höchsten Maß als vollendet gedacht. Verglichen mit diesem einmaligen ”Fall“ ist jede endliche Person, also jeder andere Mensch, durch etwas Negatives charakterisiert, nämlich durch das von Gott weg-”verwiesene“ Bei-sich-bleiben-Müssen, durch das Nicht-ganzübereignet-Sein an Gott.
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