Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Naherwartung
   wird im Hinblick auf neutestamentliche Aussagen in zweifacher Bedeutung verwendet. 1) Die N. Jesu bezog sich auf die alsbaldige, von der Sammlung ganz Israels ausgehende, universale Verwirklichung der endzeitlichen Herrschaft Gottes (Mk 1, 15; 9, 1; 14, 25; Mt 10, 23). Diese N. führt zu der theol. Frage, ob Jesus sich geirrt habe, oder ob seine N. eher eine feste Hoffnung war, die an menschlichen Verweigerungen scheiterte (Wissen und Bewußtsein Jesu ). – 2) Die N. der Urgemeinde galt der Parusie (des Menschensohnes bzw. des Kyrios Jesus, nicht sachgerecht als ”Wiederkommen“ Jesu übersetzt) in irdisch absehbarer, sehr kurzer Zeit. Am Ursprung dieser Erwartung stand sicher die Überzeugung der Urgemeinde, mit dem Tod u. der Auferweckung Jesu habe Gott sich der Welt u. der Menschheit unwiderruflich zugesagt, so daß nach diesem Geschehen eine wesentlich neue Heilszeit nicht mehr zu erwarten sei (im Doppelwerk des Lukas Lk u. Apg, das eine Zeit der Kirche vorsieht, ist diese N. nicht mehr gegeben). Was ”nur noch“ ausstehe, sei das völlige Offenbarwerden dieses eschatologischen Heils. Eine theol. Erklärung dieser N. besagt, daß angesichts der Gewißheit des schon Geschehenen der irdisch-zeitliche Abstand zu seinem vollendeten Erscheinen als unerheblich ”verkürzt“ wahrgenommen worden sei. Mit Hinweisen auf das Nichtwissen der ”Stunde“ (Mk 1, 32; Apg 1, 7) oder ein Verzögern des Endes durch die Langmut Gottes (2 Petr , 8–10) verlegt bereits das NT das Problem der N. in das Geheimnis Gottes. Das Anstößige an der Enttäuschung der N. wird, je weiter die Geschichte fortschreitet, vergrößert durch das Zurücktreten des drängenden Themas der Herrschaft Gottes hinter dem Wirken der immer stärker institutionalisierten Kirche. Ein Gegengewicht könnte das Bedenken der unwiderruflichen Selbstmitteilung Gottes in seinem Heiligen Geist sein, die sich unaufhaltsam ”schon jetzt“ ereignet. Eine individuelle Gestalt der N. ist diejenige des eigenen Todes.
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