Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Nächstenliebe
So, wie die Feindesliebe (Feind) sich von der Liebe überhaupt unterscheiden läßt, so auch die N.: Während die Liebe schlechthin den ganzen Menschen in allen seinen Dimensionen u. Schichten betrifft, erhebliche Anteile an Gefühl u. Sinnlichkeit hat u. von unverfügbarer Spontaneität bestimmt ist, geht die N. aus dem willentlichen Entschluß der menschlichen Person hervor, muß also nicht notwendigerweise von Gefühlen u. Sympathien geprägt sein (vgl. aber Mitleid, [c darkviolet]Barmherzigkeit) u. kann darum von der Bibel u. der christlichen Tradition als Gebot Gottes verstanden werden. In beiden biblischen Testamenten wird die N. mit zahlreichen konkreten Beispielen hinsichtlich des Verhaltens gegenüber den Menschen der eigenen Glaubensgemeinschaft u. gegenüber Bedrängten u. Hilflosen verdeutlicht. Im ATwie im NTumfaßt die N. jedoch darüber hinaus Ungerechte u. ”Sünder“; sie ist imstand, eigene negative Gefühle wie Verachtung u. Rachsucht zu überwinden, auch ”Fremden“ gegenüber (Lev 19, 18 34; Dtn 10, 18 f.). Daß die Ethik der N. kein Sondergut des NT ist, wie oft noch fälschlich behauptet wird, sondern einen wesentlichen Bestandteil der jüdischen Ethik darstellt, zeigt die wiederholte ausdrückliche Begründung der N. im NTmit Lev 19, 18. Bei Paulus gehört die N. zu den notwendigen Konsequenzen des Glaubens, zu der gläubigen Antwort auf die Liebe Gottes gegenüber den ”Sündern“ u. zu den ”Früchten des Geistes“ (Gal 5, 6 22). Charakteristisch für die Auffassung der N. bei Jesus ist, neben der starken praktischen Ausprägung u. neben ihrer Verbindung mit der Feindesliebe, die Betonung der Einheit von Gottesu. Nächstenliebe (Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Mk 12, 28–34 par.). – Die systematische Theologie wird unter ökumenischen Rücksichten zunächst betonen, daß die N. keine eigenständige Leistung des Menschen, sondern von Gottes Gnade ermöglicht u. getragen ist. Ihrer klassischen Tradition entsprechend versteht sie die N. als personales ”Wohlwollen“ (”amor benevolentiae“ hat nicht den herablassenden Beigeschmack von ”Wohlwollen“), als Entdeckung des Anderen u. Zuwendung zu ihm um seinetwillen, als Bejahung des Anderen in seiner Eigenart, ohne ihn ”uniformieren“ zu wollen, als Interesse am Anderen, ohne zu fragen, wie nützlich er für einen selber sein könnte (”amor concupiscentiae“), ohne ihn vom Wert für die eigene Lust u. Befriedigung (auch sozialer Gefühle) her zu bewerten. Nach dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezieht sich die N. auf die Menschen, die jeweils konkret als Nächste begegnen; grundsätzlich umfaßt sie freilich alle Menschen ohne jede Einschränkung (das II. Vaticanum spricht sogar von einer ”politischen Liebe“: GS 75 ). Wenn die N. mit emotional starken Worten wie ”Selbstlosigkeit “ oder ”Hingabe“ beschrieben wird, dann ist zu beachten, daß es neben der N. biblisch u. philosophisch auch eine legitime Selbstliebe gibt, so daß keine Verpflichtung besteht, sich restlos andern zu ”übereignen“ oder sich für sie ”aufzuopfern“. Zur Begründung der Einheit von Gottesu. Nächstenliebe ist darauf hinzuweisen, daß Gott auch für den liebenden Menschen kein ”Objekt“ der Liebe neben anderen sein kann, so daß sich von vornherein die Frage nach einer Liebes-Konkurrenz gar nicht ergeben kann. Gott ist von vornherein, auch wenn das in der Reflexion gar nicht bedacht wird, der ermöglichende u. tragende Grund jedes subjektiven u. objektiven menschlichen Aktes, u. dieser menschliche Akt (jeder Art) zielt gegenständlich auf die Welt u. damit auf innerweltliche Beziehungen. Wenn Gott sich selber ”übernatürlich“ offenbart, als das Wovonher u. Woraufhin der menschlichen Transzendenz, dann geschieht das gegenüber einem Menschen, der durch liebende, personale Begegnung u. Beziehung mit einem innerweltlich erfahrenen Du sich selber in seiner Freiheit gegeben ist. Ein Mensch erreicht die ganze Wirklichkeit nur vermittelt durch einen Akt, der sich frei u. liebend einer einzelnen Wirklichkeit zuwendet, u. gerade darin ereignet sich die Erfahrung Gottes, die für den Menschen immer u. notwendig weltliche Erfahrung ist. Die liebende Bejahung einer einzelnen Wirklichkeit ist daher immer u. notwendig liebende Bejahung Gottes. Daraus ergibt sich aber auch, daß jedes Nein zur N. immer u. notwendig, auch wenn das nicht bewußt ist, ein Nein zu Gott ist.