Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Moralsysteme
   ist ein Begriff der kath. Theologie, mit dem verschiedene Theorien bezeichnet werden, die sich auf eine konkrete Frage beziehen: Was ist ethisch (verantwortlich) zu tun, wenn ein ernsthafter Zweifel vorliegt, ob ein ethisches Gebot überhaupt existiert oder ob ein bestehendes einen vorliegenden Fall betrifft? Diese Frage setzt voraus, daß alle Anstrengungen, den Zweifel zu beheben, vergeblich waren u. daß im konkreten Fall keine sichere Verpflichtung besteht, daß ein bestimmter Zweck auf jeden Fall erreicht werden muß (wie das z. B. bei der Forderung nach der ”Gültigkeit“ eines Sakraments der Fall ist).   Auf die gestellte Frage antworten verschiedene M.:
   1. Der absolute Tutiorismus (lat. ”tutior“ = sicherer) besagt, es sei immer zugunsten eines Gebotes (Gesetzes) zu entscheiden, auch wenn Zweifel über seine Existenz bestehen, u. zwar solange ein Zweifel besteht, ob man sich berechtigterweise im Sinn einer Freiheit vom Gebot entscheiden könne. Diese tutioristische Haltung stellt einen Rigorismus dar, der praktisch unmöglich ist u. denkerisch das ethischeWesen der Freiheit verkennt. Der Tutiorismus ist kath. kirchenamtlich abgelehnt.
   2. Der Probabiliorismus (lat. ”probabilior“ = wahrscheinlicher) besagt, ein Mensch dürfe sich nur dann im Sinn der Freiheit entscheiden, wenn die Gründe gegen das Bestehen eines Gebotes besser begründet u. darum wahrscheinlicher sind. Dagegen ist einzuwenden, daß ein Gebot erst dann verpflichtet, wenn es mit Sicherheit begründet ist, u. daß die Präsumption (lat. = Vermutung) zugunsten der Freiheit (die von Gott gewollt u. ein ethischer Wert ist) entscheiden kann. Trotz dieser Bedenken ist der Probabiliorismus kath.-kirchenamtlich erlaubt.
   3. Der Äquiprobabilismus (lat. ”aequiprobabilis“ = gleich wahrscheinlich), der besagt, eine Entscheidung könne zugunsten der Freiheit fallen, wenn sie gleich gut begründet ist wie das Bestehen eines Gebotes.
   4. Der einfache Probabilismus (lat. ”probabilis “ = wahrscheinlich), der besagt, solange für die Forderung eines Gebotes keine sicheren Beweise vorliegen u. für die Präsumption der Freiheit ernsthafte Gründe vorliegen, könne für die Freiheit entschieden werden. Problematisch ist diese Auffassung deswegen, weil das Abwägen der Gründe letztlich nicht analysierbar u. die Entscheidung weitgehend eine Sache des redlichen Ermessens ist. In der Praxis sind die Urteile bei Probabilismus u. Äquiprobabilismus sachlich wohl identisch. Beide zusammen bilden das in der Tradition der Moraltheologie am meisten bejahte Moralsystem. In Zweifelsfällen lassen sie Spielraum für andere Überlegungen (ob die Gefahr, ein Gebot zu verletzen, nicht durch Erreichen anderer Werte kompensiert wird: Güterabwägung; Erwägungen der Existentialethik).
   5. Der Laxismus besagt, es besteht die Freiheit, sich gegen das Gebot zu entscheiden, wenn nur die mindeste Spur eines Rechts auf Freiheit sichtbar ist. Laxismus als Prinzip würde das Ende jeder Verpflichtungskraft ethischer Gebote bedeuten, da in den Zweifelsfragen meist nicht ”mathematische “ Gewißheiten, sondern nur moralische Sicherheiten erreicht werden können. Der Laxismus wurde kath. kirchenamtlich verurteilt.
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