Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Leiden
   (althochdeutsch ”lidan“ = in die Fremde müssen, Not erfahren) bezeichnet ein den Menschen oft zutiefst beeinträchtigendes subjektives Erleben; gelegentlichwird das Substantiv ”Leid“ im Unterschied dazu für den objektiven Tatbestand verwendet. Philosophisch meint L. zunächst die Art u. Weise, wie sich die Welt in den menschlichen Geist, der immer u. notwendig der Welt spontan ausgesetzt ist, ein-bildet oder ein-prägt (lat. ”passio“) u. wie sich der menschliche Geist so als der Welt u. ihren Eindrücken ausgesetzt erfährt. Negativ wird dieses L. empfunden, weil der Mensch von der Welt her einen ihn entmächtigenden inneren oder äußerenWiderspruch erfährt. Mit den leidenmachenden Formen dieserWidersprüchlichkeit befassen sich viele Wissenschaften (das Böse, das Übel, die Krankheiten mit ihren Schmerzen, die Kränkungen, Angst, Unglück u. andere ”Schläge“ des Schicksals, Verlust, Entmächtigung im aktiven Tun, Gewalt usw.). Da ein leidensloser Zustand der Menschheit undenkbar ist, L. vielmehr eine universale ”Grundbefindlichkeit“ des menschlichen Daseins zu sein scheint, erheben sich die Fragen nach der Herkunft des Leidens u. stellen sich die Aufgaben, wie ein Mensch die auf ihn eindrängende Situation so gut wie möglich integrierend u. verwandelnd auffangen u. sie zu einem Moment seines eigenen Selbstvollzugs transformieren könnte, was das Gegenteil wäre von rein passivemHinnehmen. – a) Im Rahmen der jüdischen u. christlichen Glaubenstradition ist die Frage nach der Herkunft des Leidens mit der Frage nach dem Ursprung des (moralisch) Bösen u. der (physischen u. psychischen) Übel identisch. Da ein metaphysischer Dualismus ausgeschlossen ist, weisen alle Bemühungen um eine Antwort in die Richtung der Verantwortung Gottes als des Schöpfers u. damit in die Richtung des unlösbaren Theodizee-Problems . Die biblischen Deutungen des Leidens als Strafen für eine Ursünde oder für individuelle Sünden, als Prüfung u. Läuterung führen gleichfalls vor die Theodizee-Fragen. Beide Testamente erwecken durch die Zeugnisse göttlicher Verheißungen die Hoffnung auf eine zukünftige endgültige Aufhebung aller L. u. Leidensursachen. Die Befragung anderer Religionen u. Weltanschauungen (Materialismus, Nihilismus) bietet keine anderen Antwortmöglichkeiten. – b) Die Glaubenshaltung nötigt nicht dazu, dem L. einen Sinn zu geben. In einzelnen Fällen mag ein Teil-Sinn eines Leidens erkannt werden (durch eine Erkrankung heilsam zur Ruhe u. Besinnung gezwungen zu werden usw.); generell existieren sinnlose L. ebenso wie sinnloser Tod. Wie das Beispiel der Klagepsalmen zeigt, sind Protest u. Klage, ja vorwurfsvolle Anklage gegen Gott angesichts des Leidens berechtigt. Ob ein Mensch seine Leidenssituation als Mitleiden mit dem leidenden u. gekreuzigten Jesus interpretieren kann (Nachfolge Jesu , Leidensmystik), ist eine höchst individuelle, von außen mit äußerster Diskretion zu behandelnde Angelegenheit. Die Theologie der Erlösung behauptet nicht die Aufhebung von L. Da das L. in der Sicht des Glaubens nicht von einem gerechten u. liebenden Gott ”verhängt“ sein kann, hat auch der glaubende Mensch das Recht, eigenes L. mit allen Mitteln zu bekämpfen oder wenigstens zu lindern. Die von Gott gebotene Nächstenliebe macht aktive Mithilfe in der Leidensbekämpfung u. -prävention u. darüber hinausgehend möglichst auch Mitleid zur Pflicht (Barmherzigkeit, Solidarität) . Heutige Mentalitäten (Erlebnisgesellschaft, Lustprinzip) stehen der Wahrnehmung von L. im Weg u. neigen zu einer mit religiösem Glauben nicht vereinbaren Apathie .
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