Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Leben
   ist ein Begriff für unterschiedliche Gegebenheiten, mit denen sich mehrere Wissenschaften befassen. Ein naturwissenschaftlicher Begriff für L. existiert nicht. Die Biologie befaßt sich mit zusammenzusehenden Merkmalen des Lebendigen, nämlich Stoffwechsel, Replikation (Vermehrungsfähigkeit schon auf der Ebene derMoleküle) u.Mutabilität. Die Ordnung des Lebendigen wird durch die Biochemie untersucht. Den Naturwissenschaften gelingt es nicht, die Ursprünge des Lebendigen (als eines ”hochkomplexen materiellen Gefüges mit dem Zweck der Selbsterhaltung “, das die ”Fähigkeit hat, das Phänomen des Psychischen hervorzubringen “: Ch. Kummer) zu ergründen. Daß die Entwicklung des Lebendigen evolutiv vor sich geht, ist eine trotz aller Unterschiede in den Evolutionstheorien empirisch gesicherte Erkenntnis (Evolution). Die Lebensfähigkeit des lebendigen Elementarorganismus der Zellen ist von vornherein begrenzt. – Philosophisch bezeichnet der Begriff L. die Existenzweise der Arten, auf die die biologischenMerkmale des Lebendigen zutreffen, u. den Zeit-Raum des einzelnenMenschen. Für die antike Philosophie (besonders Platon † 347 v.Chr. u. die ihm Folgenden) ist L. auf das Lebensprinzip der Seele zurückzuführen, die als Weltseele u. als Seele der Menschen, bei Aristoteles († 322 v.Chr.) als vegetative (in Pflanzen), animalische (in Tieren) u. vernünftige Seele L. schenkt, wobei der Mensch eine alle drei Seelenarten umfassende Seele hat (nur seine vernünftige Seele ist unsterblich: sie hat ”ewiges L.“). Im Zusammenspiel von Naturwissenschaften u. Aufklärung näherte man sich in der Neuzeit den Lebensäußerungen mit mechanistischen Kategorien, während der philosophische ”Vitalismus“ (lat. = Lehre vom Leben; Ch.Wolff †1764; C. G. Carus †1869 u. a.) eine naturwissenschaftlich nicht zugängliche Lebenskraft (”vis vitalis “) annahm, der Entelechie bei H. Driesch († 1941) verwandt. In Absetzung vom naturwissenschaftlichen, technischen u. rationalistischen Denken des 19. Jh. wollte die ”Lebensphilosophie“ zu Beginn des 20. Jh. die Aufmerksamkeit auf das Irrationale u. Schöpferische im Menschen lenken, auf den Lebensschwung u. Entwicklungsdrang bei H. Bergson († 1941), auf das Erleben des Menschen in der Geschichte bei W. Dilthey († 1911) u. a. Seither wird das L. als ganzes, im Unterschied zur Existenz, philosophisch nicht mehr bedacht. – Biblisch gilt das L. als Gabe Gottes, beim Menschen mit hebr. ”nephesch“, griech. ”psyche“ bezeichnet: Seele . Außerdem ist die Aufmerksamkeit den gelungenen oder eingeschränkten Lebensformen (hebr. ”chajjim“, griech. ”zoe“) zugewandt, die ebenfalls von Gott in seinen Verfügungen bestimmt werden (der Sache nach ist die Frage nach der ”Lebensqualität“ bereits bekannt). Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt des Interesses im NTauf das L. ”jenseits des Todes“ (Paulus) bzw. auf das Ewige Leben (Joh-Ev.). – Theologisch-systematisch wird das im Mikro- u. im Makrobereich ständig bedrohte ”Wunder“ des Lebens als Gabe von Gott her gesehen, weil im L. die Kontingenz u. Kreatürlichkeit deutlicher als im Unbelebten erfahren werden. Das L. erscheint als im wesentlich höheren Grad verwirklicht im Wesensvollzug des personalen Geistes. Dieser als wissender, freier Selbstbesitz bedeutet als Geschichte, Selbstverantwortung, endgültige Selbstverwirklichung u. als Transzendenz auf das absolute Geheimnis Gottes in ausgezeichnetem Sinn L. Von da aus wird analog bzw. metaphorisch Gott selber als das L. schlechthin u. als der stets neu schöpferische Urgrund allen Lebens, als der ”lebendige Gott“ einfachhin erfaßt. Er ist nicht un-wirklich wie die toten, von Menschen gestalteten Götzen, er kann in absoluter Souveränität u. freier Unabhängigkeit handeln. Seine Welt ist in absoluter Unterschiedenheit u. Nähe zugleich vor ihm als dem Schöpfer u. in ihm (Gen 2, 7; Ps 36, 10; Apg 17, 24–28). Er ist das restlose Bei-sich-selber-Sein in Erkenntnis u. Liebe seines unendlichen Seins (Trinität), das nur von ihm selber herkommt u. so gerade in selbstloser Mitteilung alles andere erkennt u. liebt. – In ethischer Sicht ist das personale L. im eben beschriebenen Sinn Selbstzweck, nicht Gegenstand äußerer Verfügung, wohl aber Thema eigener Verantwortung. Eine kommunikative Moralphilosophie (Ethik) befaßt sich im Gespräch mit den Naturwissenschaften intensiv mit dem Anfang u. mit dem Ende des Lebens. Angesichts der noch immer anwachsenden Erkenntnis von der Gestaltbarkeit der menschlichen Natur u. Umwelt als Gabe u. Aufgabe erweisen sich frühere Argumentationsformen hinsichtlich direkter Verfügungen u. Eingriffe Gottes (”Herr über L. u. Tod“) als unhaltbar u. jedenfalls hinsichtlich wichtiger Problemfelder (von der Empfängsnisregelung bis zu Sterbehilfe u. Selbsttötung) als nicht zu vermitteln im Gespräch mit Nichtglaubenden. Die Ethik thematisiert auch das eingeschränkte u. behinderte L. u. die aus der Mitwelt u. Umwelt erwachsenden Aufgaben (Tier). Sie hat das Recht aller Menschen auf ein menschenwürdiges L. als Menschenrecht zu begründen u. zu verteidigen. Staat u. Gesellschaft haben kein Verfügungsrecht über Anfang u. Ende des Lebens, die der individuellen Verantwortung des Gewissens unterstehen; daher hat die Ethik auf das Unrecht u. auf die Folgen aller lebensfeindlichen, inhumanen Grenzüberschreitungen (Todesstrafe, Euthanasie) hinzuweisen. Ferner sieht sie sich vor der Aufgabe, einerseits die individuellen Bemühungen um größtmögliche Lebensqualität zu legitimieren u. anderseits deren Grenzen an den gleichen Rechten aller aufzuzeigen; hierbei ist eine Besinnung auf die frühere ethische Reflexion der Tugenden hilfreich.
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