Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Kanon
(griech. Lehnwort aus dem Semitischen =Meßrohr,Maßstab), hat in der kirchlichen Sprache eine mehrfache Bedeutung: (1) Sammlung der Schriften des Alten (Ersten) u. Neuen Testaments; (2) verbindliche Glaubensaussagen des Konzils von Trient u. des I. Vaticanums; (3) kirchenrechtliche Einzelvorschrift von Synoden, Konzilien u. im Kirchenrecht (auch im CIC von 1983); (4) Bezeichnung für die ”Eucharistischen Hochgebete “ in der Liturgie. Hier wird nur der Kanon der biblischen Bücher besprochen. 1. Positive Daten. K. bezeichnet die Sammlung all jener Bücher zur Heiligen Schrift , in denen die Offenbarung Gottes überliefert ist (Inspiration) u. die daher als Glaubensnorm anerkannt sind. Diese Sammlung war ein historischer Prozeß, der mit der ”Kanonisierung“ zunächst von Teilen abschloß. Ein erstes Zeugnis dafür ist die Festlegung der Tora im 4. Jh. v.Chr., gefolgt von Zusammenstellung u. Anerkennung der Propheten im 3. Jh. v.Chr. u. übriger ”Schriften“ im 2. Jh. v.Chr. Die Anordnung der Schriften des AT u. der Anerkennungsgrad sind bei Juden, orthodoxen, ev. u. kath. Christen unterschiedlich. In den Ostkirchen wurde Offb erst 692 von der ”trullanischen Synode“ (Konstantinopel) in den K. aufgenommen; zugleich wurde der ”längere“ K. des AT mit 3 Makk, aber ohne Weish, Tob u. Jdt gutgeheißen. Die orthodoxen Kirchen benutzen den ”längeren“ K. in der Liturgie, bezeichnen aber die Bücher, die nicht im hebr. K. enthalten sind, als ”deuterokanonisch“. Bedeutende Reformatoren haben 7 griechisch überlieferte Schriften, bei den Katholiken seit 1566 ”deuterokanonisch“ genannt, als sehr angesehene, aber nicht biblische Schriften nicht im K. aufgenommen wissen wollen (Tob, Jdt, Bar, Weish, Sir, 1 u. 2 Makk, die griech. Teile von Dan u. Est), von M. Luther († 1546) als Apokryphen bezeichnet. Das Konzil von Trient legte 1546 den kath. K. fest: 1) Die Geschichtsbücher: Gen, Ex, Lev, Num, Dtn (die 5 Buchrollen, griech. ”Pentateuch“); Jos, Ri, Rut, 1 u. 2 Sam, 1 u. 2 Kön, 1 u. 2 Chron, Esra, Neh, Tob, Jdt, Est, 1 u. 2 Makk. – 2) Die ”Hagiographen “ (griech. = heilige Schriften; umfaßt poetische u. lehrhafte Bücher): Ijob, 150 Psalmen, Spr, Koh, Hld, Weish, Sir. – 3) Die Propheten: Jes, Jer mit Klgl, Bar, Ez, Dan, Hos, Joel, Am, Obd, Jona, Mi, Nah, Hab, Zef, Hag, Sach,Mal. – Späte Schriften des NT deuten an, daß im 1. Jh. n.Chr. mit der Sammlung von Berichten u. Briefen begonnen wurde. Eine Liste vom Ende des 2. Jh. (Muratori-Fragment) enthält einen K. des NT ohne Hebr, 1 u. 2 Petr, einen Joh-Brief, Jak. Bei Athanasius († 373) sind 367 alle 27 Schriften des NT als kanonisch aufgezählt: 4 Evangelien (Mt, Mk, Lk, Joh), die Apg; 14 Paulus zugeschriebene Briefe (Paulus-Briefe ): Röm, 1 u. 2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1 u. 2 Thess, 1 u. 2 Tim, Tit, Phlm, Hebr; 7 ”katholische Briefe“: Jak, 1 u. 2 Petr, 1–3 Joh, Jud; abschließend die Offb. Auch dieser K. wurde vom Trienter Konzil 1546 festgelegt. Für die jüngeren Schriften (Hebr, Jak, 2 Petr, 2 u. 3 Joh, Jud u. Offb) verwendete die kath. Bibelwissenschaft seit 1566 die Bezeichnung ”deuterokanonisch“.
2. Theol. Aspekte. Die Anerkennung bestimmter Schriften als zugehörig zum K. (”Kanonisierung“) bedeutet zugleich die Anerkennung ihres normativen u. identitätsstiftenden Charakters für die jüdische bzw. christliche bzw. jüdische u. christliche Glaubensgemeinschaft. Die Kanonbildung als Prozesse der Rezeption ist in historischen Umrissen einigermaßen deutlich. Sie zeigt, daß Glaube u. Tradition lange Zeit vor der Schriftwerdung als lebendige Größen existierten. Als entscheidendes theol. Kriterium für die Aufnahme einer Schrift in den K. zeichnet sich im Lauf eines Reflexionsprozesses die Überzeugung ab, daß sie ein authentisches Zeugnis der Offenbarung Gottes ist u. daher, wie das Konzil von Trient u. das I. Vaticanum sagten, Gott zum Urheber hat (Inspiration). Mit der Erkenntnis dieses Kriteriums ist die kath. Glaubenslehre gegeben, daß mit der letzten Schrift des NT (oder wie früher gesagt wurde: ”mit dem Tod des letzten Apostels“) die amtliche, öffentliche, die Kirche u. ihren Glauben konstituierende Offenbarung Gottes abgeschlossen, keine neue amtliche Offenbarung mehr zu erwarten ist u. daß der Glaube nur durch intensivere Beschäftigung mit der Offenbarung, d.h. durch hermeneutische Bemühungen, ein Wachstum erfahren kann. Hierbei sind die Bibelwissenschaften von größter Bedeutung, denn mit dem ”Abschluß“ der Offenbarung beginnt erst der nie abgeschlossene geschichtliche Vorgang der Interpretation. Beim Abschluß der Kanonbildung ist ein ausdrücklicher lehramtlicher Anerkennungsakt historisch nicht greifbar. Auch wenn nach einem ersten Ansatz beim Konzil von Florenz ein solcher erst vom Trienter Konzil bezeugt ist, kann man ihn als Akt des besonderen Schutzes u. des Respekts im Hinblick auf das Wort Gottes verstehen, von dem, wie es schon im AT wiederholt heißt, nichts weggenommen u. dem nichts hinzugefügt werden darf. Zwei Problemkomplexe prägen die heutige Diskussionssituation im Hinblick auf den K. Die ev. Theologie sucht gerade infolge des unverkennbaren Pluralismus der biblischen Inhalte u. Intentionen nach einem ”Kanon im Kanon“ oder nach einer ”Mitte der Schrift“, die als Kriterium für den Glaubensanspruch biblischer Texte dienen könnte (etwa die Lehre von der Rechtfertigung). Das Beharren auf der Ganzheit der Schrift als Gabe des Wortes Gottes, dem nach kath. Lehre das Lehramt nicht übergeordnet ist, sondern dem es zu dienen hat (II. Vaticanum DV 10 ), könnte dem gegenüber als Bekenntnis zur Pluralität des Glaubenssinns unter den je unverfügbaren Impulsen des Heiligen Geistes verstanden werden. Im Gespräch mit dem Judentum ist es ein dringliches Erfordernis, den Eigenwert des Kanons der hebräischen Bibel zu erkennen u. anzuerkennen, der Interpretation des AT vom NT her ein Ende zu machen u. das Schema Verheißung-Erfüllung aufzugeben, als seien in Jesus von Nazaret alle Verheißungen der Schrift erfüllt.
2. Theol. Aspekte. Die Anerkennung bestimmter Schriften als zugehörig zum K. (”Kanonisierung“) bedeutet zugleich die Anerkennung ihres normativen u. identitätsstiftenden Charakters für die jüdische bzw. christliche bzw. jüdische u. christliche Glaubensgemeinschaft. Die Kanonbildung als Prozesse der Rezeption ist in historischen Umrissen einigermaßen deutlich. Sie zeigt, daß Glaube u. Tradition lange Zeit vor der Schriftwerdung als lebendige Größen existierten. Als entscheidendes theol. Kriterium für die Aufnahme einer Schrift in den K. zeichnet sich im Lauf eines Reflexionsprozesses die Überzeugung ab, daß sie ein authentisches Zeugnis der Offenbarung Gottes ist u. daher, wie das Konzil von Trient u. das I. Vaticanum sagten, Gott zum Urheber hat (Inspiration). Mit der Erkenntnis dieses Kriteriums ist die kath. Glaubenslehre gegeben, daß mit der letzten Schrift des NT (oder wie früher gesagt wurde: ”mit dem Tod des letzten Apostels“) die amtliche, öffentliche, die Kirche u. ihren Glauben konstituierende Offenbarung Gottes abgeschlossen, keine neue amtliche Offenbarung mehr zu erwarten ist u. daß der Glaube nur durch intensivere Beschäftigung mit der Offenbarung, d.h. durch hermeneutische Bemühungen, ein Wachstum erfahren kann. Hierbei sind die Bibelwissenschaften von größter Bedeutung, denn mit dem ”Abschluß“ der Offenbarung beginnt erst der nie abgeschlossene geschichtliche Vorgang der Interpretation. Beim Abschluß der Kanonbildung ist ein ausdrücklicher lehramtlicher Anerkennungsakt historisch nicht greifbar. Auch wenn nach einem ersten Ansatz beim Konzil von Florenz ein solcher erst vom Trienter Konzil bezeugt ist, kann man ihn als Akt des besonderen Schutzes u. des Respekts im Hinblick auf das Wort Gottes verstehen, von dem, wie es schon im AT wiederholt heißt, nichts weggenommen u. dem nichts hinzugefügt werden darf. Zwei Problemkomplexe prägen die heutige Diskussionssituation im Hinblick auf den K. Die ev. Theologie sucht gerade infolge des unverkennbaren Pluralismus der biblischen Inhalte u. Intentionen nach einem ”Kanon im Kanon“ oder nach einer ”Mitte der Schrift“, die als Kriterium für den Glaubensanspruch biblischer Texte dienen könnte (etwa die Lehre von der Rechtfertigung). Das Beharren auf der Ganzheit der Schrift als Gabe des Wortes Gottes, dem nach kath. Lehre das Lehramt nicht übergeordnet ist, sondern dem es zu dienen hat (II. Vaticanum DV 10 ), könnte dem gegenüber als Bekenntnis zur Pluralität des Glaubenssinns unter den je unverfügbaren Impulsen des Heiligen Geistes verstanden werden. Im Gespräch mit dem Judentum ist es ein dringliches Erfordernis, den Eigenwert des Kanons der hebräischen Bibel zu erkennen u. anzuerkennen, der Interpretation des AT vom NT her ein Ende zu machen u. das Schema Verheißung-Erfüllung aufzugeben, als seien in Jesus von Nazaret alle Verheißungen der Schrift erfüllt.