Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Judentum und Christentum
   In der Kirchengeschichte war es seit der Zeit der Apostolischen Väter u. der Apologeten üblich geworden, von einer Beerbung Israels durch die christliche Kirche zu sprechen, als sei die Kirche das ”wahre Israel“, der gerettete ”heilige Rest Israels“, als habe ein ”Neuer Bund“ den ”Alten Bund“ abgelöst, als sei die Kirche das ”neue Volk Gottes “, das an die Stelle des alten Gottesvolkes getreten sei. Behauptungen dieser Art gingen Hand in Hand mit den Anschuldigungen, ”die Juden“ hätten kollektiv die Botschaft Jesu ausgeschlagen, hätten die Schuld an seiner Hinrichtung auf sich genommen, seien von Gott verstockt u. verworfen worden. Diese Mentalität führte konkret zu Verleumdungen, zu Wellen der Judenverfolgung, der Pogrome, der rechtlichen Diskriminierung, der Besitzkonfiszierung durch Christen. Sie gehört als ein primärer Faktor in die Entstehung u. Ausbreitung des Antisemitismus (Antijudaismus, Antisemitismus ), dessen schrecklichste Konkretion das Programm u. der Massenmord der ”Endlösung“ war. ”In Auschwitz ist nicht das Judentum, sondern das Christentum gestorben“ (E. Wiesel). Der Schock des Holocaust hat im Bereich der christlichen Kirchen u. Theologien zu einer radikalen Besinnung geführt, in deren Folge das Verhältnis von Judentum u. Christentum, von Israel u. der Kirche in einem neuen Licht gesehen wird. Während die Kirchen aller Konfessionen den Antisemitismus nachdrücklich beklagen (z.T. aufrichtig bereuen) u. verurteilen, halten sich in der Theologie noch Relikte der alten antijüdischen Mentalität. Vor allem wird dem Judentum die Anerkennung als legitimer, von Gott geoffenbarter Heilsweg manchmal noch verweigert, im Zeichen einer mißverstandenen Christozentrik (auf den Einwand, Jesus habe gesagt, niemand komme zum Vater außer durch ihn, Joh 14, 6, antwortete F. Rosenzweig †1929: ”außer denen, die schon immer beim Vater waren“). Die Sonderstellung des Judentums in der Offenbarung Gottes verbietet die Judenmission, für die sich noch immer einige Stimmen erheben. Ein Rückblick auf den Beginn der Trennung des Christentums vom Judentum im NTergibt in aller Kürze das folgende Bild, für das sich eine breite Mehrheit in der heutigen Bibelwissenschaft findet: a) Das Sendungsbewußtsein Jesu war von der Aufgabe geprägt, Israel die nahe gekommene Herrschaft Gottes anzusagen u. ganz Israel für sie zu gewinnen, mit eindringlichen Warnungen u. Drohungen an die Adresse derer, die zum Hören gerade auf ihn u. zur Umkehr nicht bereit waren, aber auch mit der nicht weniger eindringlichen Verkündigung des göttlichen Erbarmens, gerade für Arme u. Verlorene. In der Art u. Weise seines Werbens kommt seine Überzeugung von der Erstberufung Israels in das Reich Gottes zum Ausdruck. Der Glaube Israels war der Glaube Jesu (Dtn 6, 4 f.; Mk 12, 29 f.), der Gott Abrahams, Isaaks u. Jakobs war der Gott Jesu (Ex , 6; Mt 22, 32), die Tora war für ihn die wichtigste Gottesweisung, die er bis zum letzten Buchstaben erfüllen wollte u. deren Geltung er, indem er sie auf die Liebe hin radikalisierte, einschärfte (Bergpredigt). Aus seinen Drohreden folgt keinerlei definitive Verwerfung Israels, die auch imWiderspruch zu seiner umfassenden Vergebungsbereitschaft stünde. Kein Indiz spricht dafür, daß er seine Anhängerschaft als das wahre, neue Israel angesehen hätte oder begründen wollte. Die bibelwissenschaftliche Diskussion darüber, ob Jesu Selbst- u. Sendungsbewußtsein mit der Forderung, seinem Ruf zur Umkehr zu folgen, noch im Rahmen des Judentums blieb, oder ob hier die Grundlage für die spätere Christologie gegeben ist, die zur Trennung von Juden u. Christen führte, ist noch im Gang. – b) Unvollständige u. vielleicht mißverständliche Äußerungen bei Paulus sind durch Röm 9–11 bei weitem ”wettgemacht “. Den Israeliten, den ”Brüdern“ des Paulus, ”gehören die Annahme an Sohnes Statt u. die Gegenwart Gottes u. die Bündnisse u. die Gesetzgebung u. der Gottesdienst u. die Verheißungen“, zu ihnen gehören ”die Väter, u. von ihnen stammt Christus dem Fleisch nach“ (Röm 9, 4 f.). Gott hat sein Volk nicht verstoßen (Röm 11, 1–7). Die Israeliten bleiben, selbst wenn sie im Hinblick auf das Evangelium ”Feinde“ sind, ”in Hinsicht auf die Erwählung aber Geliebte um der Väter willen. Denn Gott kann seine Gnadenverheißungen u. seine Berufung nicht bereuen“ (Röm 11, 28 f.). Schließlich stellt Paulus die Rettung ganz Israels am Ende der Zeit in Aussicht (Röm 11, 25–32). Die christliche Kirche bleibt für immer auf das Judentum angewiesen, denn sie verhält sich zu Israel wie aufgepfropfte Zweige zu Wurzel u. Stamm des Ölbaums (Röm 11, 16–24; ”wenn die Wurzel heilig ist, dann sind es auch die Zweige“ Röm 11, 16). – c) Nach der Darstellung der Apg besuchte die christliche Urgemeinde täglich den Tempel in Jerusalem, die Apostel Petrus u. Johannes beteten dort u. verkündeten dort das Evangelium, auch Paulus u. seine Mitarbeiter verkündeten das Wort Gottes zuerst in den jüdischen Synagogen. Die Apg berichtet aber auch von heftigen Konflikten zwischen den Jesusanhängern u. der jüdischen Gemeinschaft. Wenn Paulus in seinen Briefen auch nicht von einer schon erfolgten Trennung der beiden spricht, so muß diese doch schon ein Prozeß der ersten Jahrzehnte nach dem Tod Jesu gewesen sein. Der Hauptgrund dafür war die Jesusverkündigung, in der er als der Messias Israels u. als Sohn Gottes proklamiert wurde. Daneben wurde er als einziger Mittler zu Vergebung u. Heil unter Abwertung der Tora vorgestellt. In den nach 70 n.Chr. abgefaßten Evangelien ist die Trennung der frühen Kirche von Israel bereits vollzogen. Allen von ihnen liegt es fern, Israel definitiv vom Heil Gottes auszuschließen. Aber Mt übt besonders scharfe Polemik, baut das Feindbild der Pharisäer auf u. schreibt im ”Blutwort “ (Mt 27, 25) dem ganzen jüdischen Volk die Schuld an der Hinrichtung Jesu zu (freilich sieht es Mt, anders als die spätere Unheilsgeschichte des Wortes, mit der Zerstörung Jerusalems als erfüllt an). Weit über Polemik hinaus geht das Joh-Ev., das ”die Juden“ insgesamt als die Feinde Jesu hinstellt u. sie zu Kindern des Satans erklärt (Joh 8, 44). Die Spätschriften des NTsind mit Ausnahme der Offb nicht durch Antijudaismus charakterisiert; ihre starke Verwurzelung im Heidenchristentum führte vielmehr zu einer ”Israelvergessenheit“, so daß auch die Ausführungen des Hebr nicht im Sinn einer Beerbung Israels durch die Kirche verstanden werden können. Eine exzessive Beleidigung stellt die Bezeichnung der Synagogen von Sardes u. Philadelphia als ”Synagogen des Satans“ Offb 2, 9; , 9 dar. – Nach 1945 wurden von verschiedenen Kirchen über 200 offizielle Erklärungen zum Verhältnis von Judentum u. Christentum abgegeben, davon über die Hälfte von der kath. Kirche, die im II. Vaticanum (NA 4 ) das Fortbestehen der Liebe Gottes zu den Juden, ihre Erwählung u. Berufung, die göttlichen Gnadengaben an die Juden ohne Reue u. ihre eigene bleibende Verbundenheit mit dem erwählten Volk bekannte u. die später auch durch den Papst ausdrücklich erklärte, daß der Bund Gottes mit den Juden nie gekündigt wurde. Wenn es zwar konstruktive Dialoge von Juden u. Christen gab u. gibt u. auf jüdischer Seite positive Einschätzungen Jesu u. des Urchristentums ausgesprochen werden, so kann es doch eine eigentliche Ökumene von Juden u. Christen nicht geben. Zum einen: ”Ökumene “ setzt zum wenigsten eine Einigung über die Heilsbedeutung Jesu voraus. Bedeutete Jesus konkret für die Juden anderes als Unglück? Zum andern, u. noch gravierender: Jüdische Stimmen sprechen von einer Asymmetrie: Für unseren Glauben u. unsere jüdische Existenz brauchen wir euch nicht, aber ihr braucht uns. DieWege zu Gott verlaufen getrennt, müssen aber auf christlicher Seite von Reue, Hochachtung u. praktischer Solidarität gekennzeichnet sein.
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