Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Jenseits
   ist eine volkstümliche, um 1800 aufgekommene Bezeichnung für Gott u. seine Wirklichkeit, vor allem aber für das Leben u. den Zustand der Menschen nach ihrem Tod ”auf jener Seite“. Die Redeweise ist aus archaischen räumlichen Vorstellungen entstanden. Bestimmte Indizien aus den Bestattungsarten vor- u. frühgeschichtlicher Menschen weisen auf den Glauben an ein Fortleben nach dem Tod hin. In den Hochkulturen entstanden Zeugnisse, die das Weltbild mit dem J. in zeitgenössischen Auffassungen rekonstruieren lassen (z. B. Kult des verstorbenen Königs an den Pyramiden, 3. Jahrtausend v.Chr.; ägyptisches Totenbuch usw.). Es existieren vielfache Entwürfe einer Geographie des J., mit Zugängen, Weggabelungen in die Unterwelt u. in die paradiesischen Gefilde, mit Gerichtsorten u. gesonderten Stätten für Läuterungen, Strafen oder Belohnungen. Von besonderem Einfluß auf spätere christliche Vorstellungen waren die Ausmalungen des J. bei Platon († 347 v.Chr.). Das AT u. das frühjüdische Schrifttum bezeugen zunächst den Glauben an das schattenhafte Fortexistieren der Verstorbenen in der Scheol, dann die Ausgestaltung der Unterwelt zur Straf- Hölle, während für Gerechte zuerst an die Entrückung in den Himmel, später auch an die Aufbewahrung in gesonderten Kammern gedacht wurde. Im biblischen Glauben stand die Erwartung einer Auferstehung der Toten bzw. in der Apokalyptik die Ansage eines Gerichts u. die Umgestaltung der Erde in immer stärkerem Gegensatz zu räumlichen Vorstellungen des J. Jesus teilte die Auferweckungshoffnungen weiter Teile des damaligen Judentums; er setzte die Redeweisen von Hölle u. Himmel in seiner Verkündigung ein u. unterstützte räumliche Ideen in seiner Erzählung vom jenseitigen ”Schoß Abrahams“ (Lk 16, 19–31). In das NT drangen auch hellenistische Gedanken zum Überleben des Todes durch die Seele ein. Weite Texte des NT verzichten auf räumliche Redeweisen vom J., sie konzentrieren sich auf die Rettung zu Gott, auf die personale Begegnung mit Jesus u. den Erwerb des Lebens in Fülle; zum Teil veranschaulichen sie den transzendenten Hintergrund mit Bildern u. Symbolen. Im Vergleich zu den J.-Vorstellungen des antiken Mittelmeerraums u. sonstigen nahen Ostens sind die biblischen Materialien zum J. spärlich. Dieses ”Vakuum“ füllten im frühjüdischen u. christlichen Schrifttum vom 2. Jh. n.Chr. an Berichte von ”Jenseitsreisen“ u. Visionen phantasievoll aus, die im Christentum bis ins 20. Jh. anhalten. Räumliche u. physikalische Vorstellungen (”arme Seelen“ im Fegfeuer, Höllenfeuer usw.) überdauerten in Verkündigung u. Volksglauben ebenfalls bis ins 20. Jh. Die Theologie der Gegenwart sucht die ”diesseitige“ Dimension des Kommenden in dem Gedanken beizubehalten, daß die Vollendung (der Schöpfung u. der Menschheitsgeschichte) der neue, verwandelte Zustand dieser Welt ist, in dem ihre ganze Geschichte ”aufgehoben“ bleibt.
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Ansicht: Jenseits