Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Hermeneutik
   (griech. = die Lehre vom Verstehen), die mit der Begegnung der Kulturen gegebene Notwendigkeit u. Methodik der Geisteswissenschaften, sich das Andersartige, vor allem Texte, durch Verstehen zu erschließen. Die Frage kann sich auf das Erfassen von Sinn u. Bedeutung richten oder zusätzlich nach der Wahrheit des Fremden fragen. Die Philosophie der neuesten Zeit versucht, den Grund für die Möglichkeit von Verstehen reflektierend zu klären. In der Antike, auch im Judentum u. Christentum, wurde bei der Interpretation nicht mehr dem unmittelbaren Verstehen zugänglicher Texte der Zugang über die Allegorie versucht; in der Bibelexegese wurde die Theorie der Schriftsinne entwickelt. Neue geistesgeschichtliche Epochen machten immer neue Methoden u. Theorien der H. erforderlich. M. Luther († 1546) hielt an der Möglichkeit fest, daß die Heilige Schrift auch im einzelnen selber den Sinn u. die Wahrheit erschließe, so daß sie sich selber interpretiere, eine Auffassung, der sich der immer stärker werdende Anspruch des kath. Lehramts auf verbindliche Schriftauslegung widersetzte. Mit dem Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jh. (Geschichtlichkeit) bahnte sich auch in der Theologie eine größere Wissenschaftlichkeit der H. an, die für die Sinnerfassung unentbehrlich ist, ohne daß die Fragen nach der Wahrheit u. dem normativen Anspruch der Schrift allein dem Kriterium der Vernunft untergeordnet würden. Die hermeneutische Diskussion in der Philosophie des 20. Jh. (M. Heidegger † 1976; H.-G. Gadamer) hat das große Verdienst, aufgezeigt zu haben, daß jedes Verstehen durch ein ”Vorverständnis“ (seien es kulturelle Kontexte u. Traditionen, seien es ”Vor-Urteile“) u. durch den dialogischen Charakter geprägt ist. Diese Einsichten wurden u. werden auch auf nicht-philosophischeWissenschaften bezogen. In der gegenwärtigen theol. Systematik werden wesentliche hermeneutische Aspekte in der Aufmerksamkeit für die Analogie jeder theol. Aussage, für die je individuelle Überzeugungskraft des Glaubenssinns u. für die Geschichtlichkeit u. Kontextualität jeder Wahrheitserkenntnis (auch in der Feministischen Theologie) thematisiert. Die polyzentrische Situation des Christentums erschwert die hermeneutischen Anstrengungen durch den Pluralismus der Kulturen u. Mentalitäten ungemein; der Fundamentalismus verweigert sich prinzipiell jeder H., da er Vor-Urteile ungeprüft übernimmt u. am Verstehen von Fremdem nicht interessiert ist.
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