Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Häresie
   (griech. = Auswahl), ein Begriff, der an sich eine bloße ”Schulrichtung “ bedeuten kann, in der christlichen Sprache jedoch negativen Charakter trägt, bei Paulus z. B. Parteiungen oder Konflikte in seinen Gemeinden (Gal 5, 20; 1 Kor 11, 18 f.), im späteren Schrifttum des NT Irrlehren meint (2 Petr 2, 1; Tit , 10). In der alten Kirche sahen Theologen u. Konzilien die Identität wesentlicher Glaubensinhalte, d. h. die auf die Apostel zurückgehende Tradition, besonders in der Christologie, durch Sonderwege der Interpretation oder durch Leugnungen bedroht. Dabei wurde die produktive Kraft von Auseinandersetzungen nicht geleugnet. Zunehmend wurde die Tendenz zu eigenen Gemeinschafts- oder Kirchengründungen als lebensbedrohend empfunden. Die kirchlichen Autoritäten reagierten mit heftigen Maßnahmen (Bann) gegen die H. Dabei scheuten sie die Inanspruchnahme staatlicher Gewalt (Inquisition) nicht, wobei sie sich auf Augustinus († 430) berufen konnten, der Gewaltanwendung gegen Häretiker gutgeheißen hatte. In den orthodoxen Ostkirchen u. den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen wird an einem Grundbestand verbindlich formulierter Glaubenswahrheiten (Apostolisches Glaubensbekenntnis, erste Ökumenische Konzilien) u. damit an der Möglichkeit von H. u. an Verfahren gegen Häretiker festgehalten. – In der heutigen kath. Theologie wird zwischen einer ”materiellen H.“, wenn jemand objektiv einer H. anhängt, ohne sich dessen bewußt zu sein, u. einer ”formellen H.“, wenn jemand einer H. auch subjektiv u. hartnäckig anhängt, unterschieden. Seit den Erkenntnisfortschritten durch die Aufklärung u. im Zusammenhang mit Ökumenischen Gesprächen über Lehrunterschiede setzen theol. Besinnungen über tiefere Verständnismöglichkeiten u. angemessenere Verhaltensweisen gegenüber den Problemen der H. ein. Historische Untersuchungen haben gezeigt, daß eine vehement bekämpfte H. eigentlich ein nonkonformer Sprachgebrauch (eine bloß ”verbale H.“) u. den kirchlichen Folgen nach ein Schisma sein konnte. Sie ergaben ferner, daß sich eine reale H. in eine bloß verbale zurückentwickeln kann u. daß Exkommunikationen aufgehoben werden können. Eine H. kann auch der Anlaß dafür sein, eine kirchliche Lehre zu vertiefen oder eine Praxis zu korrigieren, so daß sie eine positive Funktion für Christentum u. Kirche haben kann. Auch eine Schuld, die nicht sein soll, bleibt umfangen vom Willen u. der Liebe Gottes. Wenn die Kirche sich nicht von vornherein gegen den Widerspruch versperrt, sondern hört, u. nicht einen starren Wahrheitsbesitz unerbittlich verteidigt, dann kann die Kirche ihre eigene Wahrheit deutlicher kennenlernen. Das schließt die Pflicht zur Unterscheidung der Geister u. zur Wahrung der Einheit der Kirche nicht aus. – Im heutigen kath. Kirchenrecht bezeichnet der Begriff H. nicht die Glaubensüberzeugungen in den von Rom getrennten Kirchen. H. bedeutet vielmehr die Trennung eines kath. Christen von der kirchlichen Gemeinschaft durch hartnäckiges Leugnen einer verbindlichen Glaubenswahrheit oder auch den öffentlichen Glaubensabfall. Diese H. hat die von selbst eintretende Exkommunikation zur Folge.
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