Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Gnade
   (althochdeutsch ”ganada“ =Wohlwollen, Gunst; griech. ”charis“, lat. ”gratia“) als theol. Begriff bezeichnet die sich aktiv, frei u. absolut ungeschuldet dem Menschen zuwendende Zuneigung Gottes sowie die Wirkung dieser Zuneigung, in der Gott sich dem Menschen selber mitteilt.   1. Biblisch. Das Erste Testament stellt im ganzen ein einziges Zeugnis der ”personalen“ Zuneigung JHWHs zu seinem Eigentumsvolk u. zu dessen Angehörigen dar. Die Perspektive ist zuweilen auf die Schöpfung u. die Menschheit ausgeweitet. Gottes Interesse gilt der Errichtung einer dauerhaften gegenseitigen Beziehung, in welcher der ungeheuere Abstand der beiden ”Seiten“ durch Liebe verringert wird; wenn diese Beziehung als Bund “ bezeichnet wird, so steht doch nicht eine gegenseitige Verpflichtung im Vordergrund; wenn Gott seineWeisungen kundgibt (Tora), so ist das Bekundung seiner Fürsorge u. nicht seiner Herrschsucht. Die Begriffe, die Gottes Verhalten bezeichnen, bedeuten verläßliche Güte (”chesed“), ungeschuldete Zuneigung (”chen“), erbarmende Liebe (”rachamim“), Freundlichkeit (”razon“). Sie stehen oft im Zusammenhang mit Vergebung. Die der ganzen Menschheit geltenden Verheißungen meinen eine erlösende, alle Hoffnungen erfüllende Gemeinschaft mit Gott (”schalom “). Auch das außerbiblische Judentum bleibt bei diesen Auffassungen von G.: das Geschenk der Tora wie die Vergebung der Sünden u. die Ermöglichung des Guten sind völlig unverdient, auf die reine Güte u. das Erbarmen Gottes zurückzuführen. Wohl auf dem Weg über das hellenistische Judentum (Philon † um 50 n.Chr.) wurde der Begriff ”charis“ mit seinem religiösen Gehalt der wichtigste Begriff für G. im NT . Bei Jesus wird alles das, was im AT über Gottes liebevolle u. erbarmende Zuneigung gesagt wurde, erzählend verdeutlicht. Der ungeschuldete Charakter der G. Gottes wird im Gleichnis von den unverdient belohnten Arbeitern im Weinberg hervorgehoben (Mt 20, 1–16). Breit entfaltet Paulus das Thema der G. Auf sie, die Initiative Gottes des Vaters, gehen Umkehr, Glaube, Rechtfertigung zurück. Paulus sieht sie in seinem eigenen Wirken am Werk (1 Kor 15, 10; 2 Kor 12, 9). Als Gottesgemeinschaft prägt sie den Lebensraum der Glaubenden, die dank der G. Gottes die Praxis des Guten vollbringen können (2 Kor 8 u. 9); sie kann auch in den Glaubenden noch ”wachsen“. Ein paulinisches Eigengut ist die Prägung ”G. des Kyrios Jesus“ (2 Kor 8, 9; 12, 9; Gal 1, 6; Röm 5, 15), bezogen auf die den Glaubenden in Kreuz u. Auferweckung Jesu erwirkte Gerechtigkeit. Im übrigen Schrifttum des NT finden sich viele weitere Zeugnisse für die G. (bedauerlich die antijüdischeWendung Joh 1, 17), die die Grundauffassung jedoch nicht verändern.
   2. Theologiegeschichtlich. Bemerkenswert ist die Thematisierung der G. im Rahmen der patristischen östlichen Theologie der Vergöttlichung als des von Gottes G. gewollten u. ”pädagogisch“ prozeßhaft verwirklichten Zieles des Menschen. Der kirchliche Westen betonte mehr die G. als Vergebung der individuellen Sünde u. im Zusammenhang damit die Freiheit desMenschen (Augustinus †430; Pelagianismus). Die augustinische Sicht erlangte durch die Synode von Karthago 418 kirchliche Geltung: Soll der Mensch frei, gerecht u. heilig werden, so bedarf er der erwählenden G. Gottes als absolut notwendiger, besonderer, helfender u. unfehlbar wirkender Kraft. In der umfassenden Systematisierung der Gnadentheologie bei Thomas von Aquin († 1274) finden sich wichtige Axiome u. Unterscheidungen, die in der kath. Theologie bis heute Geltung haben. Als Geschöpf ist der Mensch nicht fähig, von sich aus zur Anschauung Gottes zu gelangen, die das ihn erfüllende u. vollendende Ziel darstellt; als Sünder bedarf er erst recht der G. Diese wird ihm als Heiligmachende Gnade von Gott geschenkt u. wird ihm innerlich zu eigen (”gratia habitualis “ im Unterschied zu den einzelnen ”aktuellen“ Gnadenhilfen, die Gott punktuell von außen schenkt). Die G. läßt sich unterscheiden in ungeschaffene (”gratia increata“), die Gott selber in seiner Zuwendung zum Menschen ist, u. in geschaffene (”gratia creata“), die Wirkung dieser Zuwendung im Menschen. Von der ”Vorbereitung“ auf die G. (Disposition) bis zu der von der G. verliehenen neuen Qualität des Menschen ist für Thomas im gerechtfertigten Menschen alles G. Diese Sicht wird im Nominalismus verlassen zugunsten einer Tendenz, die ein verdienstliches Handeln aus natürlicher Kraft erwägt. Dagegen u. gegen vielleicht mißverständliche Äußerungen zu den ”guten Werken“ wendet sich M. Luther († 1546), der die G. als Rechtfertigung thematisiert (Sola gratia ). Die Antwort des Konzils von Trient zeigt in wesentlichen Auffassungen die Übereinstimmung mit den Reformatoren: Der G. Gottes kommt die alleinige Initiative für das Wollen, Können u. faktische Vollbringen des Guten zu; zu allem heilshaften Tun ist die G. absolut notwendig. Allerdings ermöglicht die gnadenhafte Befreiung der menschlichen Freiheit, daß der gerechtfertigte Mensch wirklich gut u. heilshaft handeln kann (Verdienst) . In der nachtridentinischen kath. Theologie ergaben sich Streitigkeiten innerhalb der Gnadensysteme sowie durch Bajanismus u. Jansenismus über die genaueren Bestimmungen der Verhältnisse von G. u. Freiheit sowie von Natur und Gnade . Die kath. kirchenamtliche Lehre betonte wie schon früher immer von neuem die Übernatürlichkeit der G., die derMensch durch keinerlei eigene Kräfte verdienen u. die er weder von sich aus erbitten noch auf die er sich positiv vorbereiten kann. Die Überschätzung der menschlichen Leistungsfähigkeit beim Streben nach vollkommener Tugend durch die Aufklärung hatte als Reaktion einen Extrinsezismus in der Gnadenlehre der kath. Neuscholastik zur Folge, der die G. Gottes als Grund bereits der Schöpfung aus den Augen verlor u. ”natürliche“ u. ”übernatürliche“ (Übernatürlich) Wirklichkeiten auseinanderriß. Versuche zur Überwindung dieser Spaltung stellten die Immanenzapologetik, die Nouvelle Théologie , der theol. Personalismus u. die Transzendentaltheologie K. Rahners († 1984) mit ihren Schlüsselbegriffen des übernatürlichen Existentials u. der Selbstmitteilung Gottes dar. Auf ev. Seite machte K. Barth († 1968) mit Nachdruck darauf aufmerksam, daß bereits das Schöpfungshandeln Gottes ein gnädiges Handeln aus Liebe ist (die Schöpfung der äußere Grund des Bundes, der Bund der innere Grund der Schöpfung). Die ökumenischen Gespräche über die Rechtfertigung erbrachten den Nachweis, daß eine ev.-kath. Verständigung auch über die G. als innere Heiligung des Menschen u. als erneuernde, Gutes bewirkende Kraft möglich ist.
   3. Systematisch (vgl. Rahner-Vorgrimler 1961, 138–141). a) Der glaubende Mensch versteht sich in u. trotz seiner Geschöpflichkeit u. obwohl er sich von seiner Zugehörigkeit zur Menschheit u. von seinem eigenen Verhalten her als Sünder anerkennt, als der geschichtlich von Gott u. dem wirksamen Wort seiner freien absoluten Selbsterschließung in Gottes eigenstes u. innerstes Leben hinein Angerufene. Das Entscheidende dieser Aussage besteht darin, daß Gott dem Menschen nicht nur irgendeine heilvolle Liebe u. Nähe zuwendet, irgendeine heilvolle Gegenwart schenkt, sondern ihn Gottes teilhaftig machen will, ihn zum ewigen Leben Gottes, zur unmittelbaren selig machenden Anschauung Gottes ”von Angesicht zu Angesicht“ beruft. – b) Diese G. ist in sich freies Geschenk demMenschen gegenüber, nicht bloß insofern er Sünder ist, sondern schon im voraus dazu. Damit diese Selbstmitteilung Gottes nicht durch die Annahme von seiten des endlichen Menschen zu einem bloß endlichen Ereignis nach den Maßstäben der endlichen Kreatur gemacht u. so als Selbstmitteilung Gottes aufgehoben wird, muß auch die Annahme der G. von Gott selber in derselben Weise getragen sein wie die Gabe selbst. Die Selbstmitteilung erwirkt als solche ihre Annahme; die aktuelle u. nächste Verwirklichung dieser Annahme ist ebenso freieste Gnade. – c) Insofern diese freie Selbstmitteilung Gottes von der geistigen Kreatur in ebenso freier dialogischer Partnerschaft angenommen werden muß, ist eine bleibende, von Gott frei gesetzte Verfaßtheit des Menschen vorausgesetzt. aa) Diese geht der Selbstmitteilung Gottes so voraus, daß der Mensch die G. als freies Ereignis der Zuwendung Gottes empfangen muß, sie also nicht errechnen kann. Der Mensch ist zwar auf eine solche Selbsterschließung Gottes hin offen (übernatürliches Existential, Potentia oboedientialis ) u. ist, wenn er sich ihr versagt, mit seinem ganzen Wesen im Unheil, aber sie ist nicht einfach mit seinem Selbstvollzug ”immer schon“ mitgegeben. bb) Sie bleibt auch dann im Modus der Sinnlosigkeit bestehen, wenn der Mensch sich dieser Selbsterschließung Gottes verschließt. Diesen ”Adressaten“, diese Voraussetzung der Selbstmitteilung Gottes, nennt man in kath. Begrifflichkeit die ”Natur“ des Menschen. – d) In diesem Sinn ist die G. der Selbstmitteilung Gottes ”übernatürlich“, mit anderen Worten: sie ist dem Menschen schon im voraus zu seiner Unwürdigkeit als Sünder ungeschuldet, das heißt mit seinem unverlierbaren Wesen als Mensch noch nicht mitgegeben, Gott könnte sie also ”an sich“ auch ohne Sünde dem Menschen versagen. – e) In dieser Sicht ist die G. als vergebende nicht in den Hintergrund gedrängt. Denn der konkrete Mensch findet sich immer in einer doppelten unentrinnbaren Situation: als Kreatur u. als Sünder, wobei sich für die konkrete Erfahrung diese beiden Momente gegenseitig bedingen u. erhellen. Die Fehlbarkeit der endlichen Kreatur ist zwar noch nicht einfach Sünde, aber in dieser kommt sie unerbittlich ans Licht; u. die Sündigkeit zwingt denMenschen, sich unausweichlich als die absolut endliche Kreatur zu begreifen, für welche die vergöttlichende Zuwendung Gottes immer auch Vergebung ist. – f) Die G. hat geschichtlich-konkreten Charakter u. das besagt, daß sie – unbeschadet dessen, daß sie allen Menschen zu allen Zeiten u. überall gilt – nach dem geoffenbartenWillen Gottes ”inkarnatorischen“ u. sakramentalen Charakter hat u. den glaubendenMenschen einbezieht in das Leben u. in den Tod Jesu. – g) Von diesem gnadentheologischen Ansatz her ist leicht begreiflich, daß die Gnade schlechthin u. als streng übernatürliche der sich selber mit seinem eigenen Wesen mitteilende Gott ist, die ”ungeschaffene G.“ Von da aus ist eine sachhafte Auffassung der G., die die G. in die autonome Verfügung des Menschen gäbe, grundsätzlich u. in jeder Hinsicht ausgeschlossen. Der Begriff der ”ungeschaffenen G.“ besagt, daß der Mensch selber in sich wahrhaft neu geschaffen ist durch diese Selbstmitteilung Gottes, so daß es also in diesem Sinn auch eine ”geschaffene G.“ gibt. ”Habituell “ (beständig, dauerhaft) ist die G., insofern die übernatürliche Selbstmitteilung Gottes dem Menschen dauernd angeboten ist u. insofern sie vom ”mündigen Menschen“ in befreiter Freiheit angenommen ist. ”Aktuell “ wird diese selbe G. genannt, insofern sie aktuell den (existentiell gestuften, immer neu vollziehbaren) Akt ihrer Annahme trägt u. darin sich selber aktualisiert. Sie ist also nicht nur in äußeren, von Gott gestalteten Umständen zu sehen, sondern sie ist im selben Sinn wie die ”heiligmachende G.“ ”innere“ G. – h) Aus der Tatsache des allgemeinen Heilswillens Gottes einerseits u. der Sündigkeit des Menschen anderseits ergibt sich, daß es auch eine angebotene, aber nicht wirksam werdende Gnadenhilfe gibt. In der Tradition wurde diese die ”bloß hinreichende G.“ (”gratia sufficiens“) genannt. Inwiefern das bloß Hinreichende mit dem erwählenden Willen Gottes zusammenhängt, muß dunkel bleiben. Jedenfalls wird die G. nicht wirksam kraft der unwiderstehlichen Allmacht Gottes . – i) Trotz der Erbsünde u. der Begierde ist der Mensch kraft der befreiten Freiheit frei; er stimmt also der zuvorkommenden G. Gottes als Freier zu oder er lehnt sie frei ab. Wenn kirchliche Texte unter dieser Voraussetzung von einem ”Miteinanderwirken“ Gottes u. des Menschen sprechen, dann bedeutet das keinen die Heilswirkung aufteilenden Synergismus “. Denn nicht nur das Können des heilwirkenden Handelns, sondern auch die freie Zustimmung ist G. Gottes. Sie ist es also, die die menschliche Freiheit zum Können u. zum Tun befreit, so daß die Situation dieser Freiheit zum Ja oder Nein gegenüber Gott nicht autonome, emanzipierte Wahlsituation ist. Vielmehr tut der Mensch dort, wo er ”nein“ sagt, sein eigenes Werk, u. dort, wo er ”ja“ sagt, muß er das als Gottes Gabe Gott danken. – Eine Erfahrung der Gnade kann sich konkret in den verschiedensten Gestalten ereignen, bei jedem Menschen anders: als unbedingte personale Liebe, als unsagbare Freude, als Trost ohne erkenntlichen Grund, als unbedingter Gehorsam gegenüber dem Gewissen, als selbstloses Engagement im sozialen Dienst, im Dienst von Befreiung u. Gerechtigkeit für andere.
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