Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Gewissen
   (griech. ”syneidesis“, lat. ”conscientia“) bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, Haltungen u. Handlungen ethisch zu beurteilen, sowie die Freiheitserfahrung, in der ein Mensch sich seiner Verantwortung bewußt wird.   1. Geschichtliches u. Begriffliches. In den biblischen Offenbarungszeugnissen wird das G. umschrieben u. als Begriff verwendet. In den Umschreibungen dessen, was mit G. gemeint ist, spricht die Schrift vom Herzen, in das der Wille Gottes geschrieben ist (Röm 2, 15), das versteinern (Ez 11, 19) oder geteilt (Jak 1, 8) sein kann, das beschnitten werden muß (Apg 7, 51), in dem das Licht der göttlichenWahrheit leuchtet (2 Kor 4, 6). Wer ein ”reines Herz“ hat, der wird Gott schauen (Mt 5, 8 28; vgl. 12, 34 f.). In der griech. Philosophie des 1. Jh. v.Chr. kam der Begriff Syneidesis für ”sittlich urteilendes Selbstbewußtsein“ auf (bei Cicero †43 v.Chr. u. a. röm. Philosophen ”conscientia“); er ging auch in die apostolischen Schriften des NT ein. Für Paulus haben die Starken im Glauben das G. der Schwachen (1 Kor 8, 7–13) u. das G. der Heiden (1 Kor 10, 28 f.) zu achten. Die ethischen Anforderungen sind von Natur aus in das Herz der Heiden eingeschrieben u. werden vom G. mitbezeugt (Röm 2, 14 ff.). In der Theologiegeschichte befaßte sich Thomas von Aquin († 1274) eingehend mit dem G. Er unterschied die Gewissensanlage als die Fähigkeit, gut u. böse zu erkennen u. sich für das Gute zu entscheiden, von der Gewissenstätigkeit als dem konkreten Gewissensurteil in einer konkreten Situation. Hinsichtlich dieses Urteils betonten die Anhänger des Thomismus die Bestimmung durch die Vernunft, während die Franziskanerschule im Willen das bestimmende Moment sah. Das Gewissensurteil kann nach übereinstimmender Tradition fehlgehen, weil ihm falsche Informationen oder Irrtümer zugrunde liegen können oder es falsche Schlußfolgerungen zieht; es bleibt für den Menschen dennoch verpflichtend. Die Redeweise vom ”irrigen G.“ ist allerdings falsch, da nicht die Gewissensanlage als solche, sondern nur das konkrete Urteil irrig sein kann. Für die ganz vom Gedanken der Rechtfertigung aus Gnade allein bestimmte reformatorische Theologie hat das G. die Funktion, die Sünde ins Bewußtsein zu rufen. In der Philosophie der Neuzeit wurde das G. im Zusammenhang mit der Frage nach Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung diskutiert. Während das II. Vaticanum sich positiv zum G. äußerte (GS 16 ) u. die Gewissensfreiheit als Religionsfreiheit anerkannte, vermehrten sich die Warnungen der kirchlichen Leitungsinstanz vor Irrtümern u. möglichem Mißbrauch des individuellen Gewissens, verbunden mit dem Anspruch des Amtes, bei der Vermittlung von Normen an das G. mitzuwirken.
   2. Systematisch. Der Mensch, der sich in seiner konkreten Situation entscheiden muß u. dennoch von der möglichen Falschheit seines Gewissensurteils weiß, ist auf die Gnade Gottes angewiesen, die seine Freiheit befreit. Dies immer vorausgesetzt, kann zusammenfassend folgendes gesagt werden. Die Bildung der inneren Überzeugung ist in die Verantwortlichkeit der Person gegeben u. muß sich darum auf alles beziehen, was mit ”Person“ gesagt ist: Verantwortung vor Gott als dem richtenden Geheimnis, vor dem eigenen Ich u. seiner inneren Wahrheit (Wahrhaftigkeit) u. vor dem sozialen Umfeld, den Beziehungen dieses Ichs. ”Bildung“ des Gewissens bedeutet, daß seine Reflexion über die vorgegebenen Wirklichkeiten vertieft u. geschärft werden kann. Dazu gehört, daß der Mensch die von ihm erkannten objektiven Normen (aus Gottes Offenbarung u. dem Sittengesetz) in seinem Freiheitsakt bejaht. Diese objektiven Normen werden dem Menschen aber nur durch die Vermittlung seines personalen Gewissensurteils überhaupt präsent. Die objektiven Normen müssen also in ihrer Herkunft, in ihrer genaueren Bedeutung u. in ihrem Geltungsanspruch von der Vernunft erkannt werden; sind sie Ergebnis einer Interpretation (wie das bei der Interpretation der aus der Offenbarung abgeleiteten Normen durch das kirchliche Lehramt der Fall ist), dann muß diese Interpretation sich in jeder Hinsicht (nach ihren eigenen Quellen, Voraussetzungen, mitschwingenden Meinungen usw.) als vernunftgemäß u. argumentativ überzeugend ausweisen, weil andernfalls die interpretierend vorgetragenen Normen gar nicht Gegenstand eines Gewissensurteils werden können. Sind die Voraussetzungen für ein Gewissensurteil gegeben u. erfolgt dieses, dann ist es in jedem Fall absolut bindend. Ob u. wie es erfolgt, hängt aber von der Stellungnahme des Willens zur vernünftigen Erkenntnis ab. Von da aus kann in mehrfacher Hinsicht von Gewissensfreiheit gesprochen werden: a) die Freiheit des Willens, die Forderungen des Gewissens anzuerkennen oder nicht; b) die Freiheit, gegenüber jeder Beeinflussung von außen dem G. allein zu gehorchen; c) die Freiheit, im sozialen Umfeld gemäß dem eigenen G. zu leben (Toleranz) .
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