Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Gewalt
   (von lat. ”valere“ = vermögen) ist ein unterschiedlich verwendeter Begriff, seit dem Mittelalter im Sinn von Vollmacht, Befugnis (”potestas“) gebraucht u. so in der Kirchensprache bis ins 20. Jh. üblich; vor allem bedeutet G. aber die Durchsetzung von Macht, auch gegen den Willen eines betroffenen Menschen (einer Gruppe usw.), so daß G. mit Zwang identifiziert werden kann. In der biblischen Ätiologie werden die unheilvollen Zustände in der Welt auf eine Ursünde zurückgeführt, zu deren ersten Folgen Haß u. Brudermord zählen (Gen 4, 1–16). Die beiden biblischen Testamente zeigen ein unterschiedliches Verhältnis zur G. Einerseits wird Gewaltanwendung, auch durch Gott u. sein Volk, einfach registriert, als G. durch die ”Obrigkeit“ von Paulus sogar legitimiert (Röm 1, 1–7). Anderseits übt Gott selber Gewaltverzicht durch liebende Selbstbeherrschung (Hos 11, 8 f.), u. die Bergpredigt mahnt dazu, die G. durch Feindesliebe zu entmächtigen (vgl. auch Mt 26, 52: ”Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen“). In der Theologiegeschichte wurde das ethische Problem der G. zu allen Zeiten diskutiert. Gewaltanwendung durch Christen wird in eingeschränktem Sinn für erlaubt erklärt, zum Schutz der Menschenrechte (Verhinderung u. Bekämpfung von Verbrechen) durch befugte Instanzen, im ”gerechten Krieg“ unter Berücksichtigung bestimmter Bedingungen (vor allem der Verhältnismäßigkeit der Mittel) u. in Fällen der Notwehr. Neuere Überlegungen gelten der Frage, ob angesichts massiver Rechtsverletzungen durch die eigene politische Führung oder angesichts ”struktureller G.“ in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen gewaltsamer Widerstand bzw. Revolution auch für Christen erlaubt sein könnten. Die überwiegende Meinung geht dahin, diese Frage zu bejahen. Ferner erstreckt sich die neuere Diskussion auf einen erweiterten Begriff von G., der auch psychische G. (seelische Erpressung u. Nötigung, Liebesentzug) einschließt. Die Anwendung jeder G. in persönlichen Beziehungsfeldern (Nachbarschaftskonflikte, Eltern-Kinder, Ehe) wird von der christlichen Ethik strikt abgelehnt. Im Buddhismus gilt G. als einer der Gründe, die zur leidvollen, läuternden Reinkarnation führen; Menschen dürfen keinerlei Leid verursachen. Gewaltverzicht empfiehlt auch der Hinduismus, wobei aber Ausnahmen zugelassen sind. Nach dem Islam kann der Kampf zur Durchsetzung des Gotteswillens zur Anwendung von G. verpflichten. Christentum, Judentum u. Islam werden durch gewalttätige Konflikte erschüttert, die die Hilflosigkeit der Religionen gegenüber dem Fundamentalismus zeigen.
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