Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Geschichtlichkeit
   heißt die eigentümliche Grundbestimmung des Menschen, durch die er in die Zeit gestellt ist, in eine Vergangenheit, die zum allergrößten Teil nicht von ihm bestimmt wurde u. die auf ihn einwirkt, u. angesichts einer Zukunft, die ihn herausfordert; er ist in eine komplexe Zuständlichkeit ”verfügt“, die er in Freiheit übernehmen muß. Damit ist gesagt, daß er sich selber verwirklicht (u. nicht bloß auf Vorgegebenes ”reagiert“), indem er zum Geschehenen Stellung nimmt, u. daß er die Zeit selber verwandelt, insofern er im Jetzt seiner verantwortlichen Entscheidung das Verfügte, die physikalische Zeit, zu ”seiner“ Zeit macht u. dadurch zu sich selber als Existierender kommt. Die Geschichte wäre demnach das von Menschen Gestaltete im Unterschied zu den Abläufen von Naturprozessen. Von S. Kierkegaard († 1855) stammt die Unterscheidung zwischen ”historisch“ u. ”geschichtlich“. ”Historisch“ ist, was in Quellen als Ereignis bezeugt ist, sich rekonstruieren, interpretieren u. in einen Zusammenhang stellen läßt. ”Geschichtlich“ ist, was den Menschen zur Entscheidung herausfordert u. für seine Identitätsbildung prägend ist. Das Geschichtliche ist zugleich das Einmalige der Entscheidung im Augenblick u. dasjenige, was in der Freiheitsentscheidung auf Endgültigkeit hin transzendiert wird. Die mit dem menschlichen Geist vorgegebene Aufgabe hinsichtlich der Zeit u. der Geschichte erfüllt der Mensch jedoch nie adäquat; er scheitert an seiner Endlichkeit. Das besagt, daß die G. des Menschen einer Heilung bedarf, die aus der Kette seiner Entscheidungen nicht zu erwarten ist. Von da aus wird deutlich, daß nur die Offenbarung Gottes im Aufweis des echten Endes der Geschichte als deren definitiver Vollendung die G. desMenschen zu sich selber bringt, u. es ergibt sich aus dem Wort Gottes auch, daß die G. zu den Grundbestimmungen eines Daseins im Glauben gehört. Als theol. Begriff besagt die G. des Menschen, daß das Wort Gottes als Anruf ihn in einem bestimmten, vorgeprägten ”Augenblick “ trifft u. ihn zu einer Antwort herausfordert, die gerade diesem ”Jetzt“ entspricht, so daß weder Anruf noch Antwort zeitlos u. geschichtslos sind (G. der Wahrheit). Ferner besagt G. in theol. Sicht, daß ”der Mensch“ für die souveräne Verfügung Gottes so offen ist, daß er aus einem geschichtlich-personalen Ereignis das Heil seiner selbst, seiner Welt u. Geschichte erwarten darf. Die G. besagt des weiteren, daß die Erinnerung an das heilshafte Ereignis als Geschehenes (Anamnese) die Kraft zu einer wirklichen, die bloße Vergangenheit überwindenden Vergegenwärtigung haben kann. Sie besagt schließlich, daß das Heilsereignis auch in seinem kommunikativen Charakter in seinem Andenken geschichtlich u. nicht rein historisch verwahrt ist, das heißt, daß die früheren Antworten der Glaubensgemeinschaft zusammen mit ihm verwahrt sind u. daß die ”je jetzt“ geforderte Glaubensentscheidung eines Menschen nicht nur durch seine ”je jetzige“ Situation, durch sein ”je jetziges“ Verständnis, sondern auch durch frühere Verständnisse geprägt ist (Dogmenentwicklung) .
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Ansicht: Geschichtlichkeit