Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Gericht Gottes
   Vorstellungen von einem richtenden, strafenden Eingreifen Gottes innerhalb der Geschichte oder an deren Ende sind in vielen Religionen verbreitet. Einflußreich im Bereich der christlichen Theologie waren die Ausführungen Platons († 347 v.Chr.) von einem Richterspruch nach dem individuellen Tod, durch den die Gerechten in die Seligkeit, die Ungerechten in die Strafhölle gelangen.   1. Biblisch. Das AT erzählt von vielen Strafgerichten Gottes in konkreten Fällen schuldhaften oder gottlosen Verhaltens. Prophetisch wird das G. G. am nahenden Ende der Zeit, am Tag des Herrn , angekündigt.Wirkungsgeschichtlich ist die Ansage des Endgerichts im Tal Joschafat am Rand Jerusalems von Bedeutung (Joel 4, 2 12). Das eschatologische G. G. wird, so wie öfter im Frühjudentum, erzählend geschildert (Jes 66, 15 f.; Dan 7, 9 f.; Weish 1–5). Das AT rühmt doxologisch Gott als gerechten Richter über Völker u. über den Kosmos (besonders in den Psalmen, die das Kommen des G. G. auch erbitten). Die Rettung der Getreuen u. Gerechten im G. G. ist ein wichtiges Thema (vgl. auch Zorn Gottes ). Im NT tritt die Ansage des G. G. bei Johannes dem Täufer hervor (Mk 1, 2–8 par.). Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Ernsthaftigkeit u. Dringlichkeit seiner Umkehrforderung wird auch Jesus das G. G. motivierend eingesetzt haben; neu gegenüber dem AT ist die Ankündigung, die Frage nach dem Bekenntnis zu ihm werde im eschatologischen G. G. heilsentscheidend sein (Lk 12, 8 f.). Das G. G. ist häufiges, stereotyp verwendetes Thema im NT . Paulus verändert die Redeweise vom G. G. insofern, als er unter Beibehaltung des Gerichtsmotivs auch vom Richterstuhl Christi (2 Kor 5, 10) u. vom Tag Christi spricht (1 Kor 1, 8 u. ö.). Daß Jesus Christus der Richter der Lebenden u. Toten sein wird, ist der frühchristlichen Predigt geläufig (Apg 10, 42; 2 Tim 4, 1; 1 Petr 4, 5). Bei Joh wird das G. entsprechend den Bearbeitungsschichten sowohl als ”jetzt“ ergehendes (Joh , 16–21 u. ö.) wie auch als zukünftiges (Joh 12, 46 ff.) thematisiert. Die breite Schilderung des G. G. Mt 25, 31–46 wurde in der theol. Tradition von großer Bedeutung. Der nach exegetischer Auffassung nicht auf Jesus selber zurückgehende Text stellt den Menschensohn als endzeitlichen Richter aller Völker u. als König dar, der sich selber mit den Notleidenden identifiziert u. je nach dem praktischen Mitleid, nicht nach dem Bekenntnis richtet. In Anlehnung an Dan 7 beschreibt Offb 20, 11–15 das G. G. am Ende der Zeit.
   2. Theologiegeschichtlich. Für die altkirchliche Theologie war der von Platon stammende (bei Dan 12, 1 ff. ebenfalls vorkommende) Gedanke einer notwendigen ausgleichenden Gerechtigkeit leitend bei der Reflexion über das G. G., so daß das individuelle G. G. beim Tod den Vorrang vor dem endzeitlichen erhielt. Eine mitleidslose Gerichtstheologie der ”Wissenden“ (Cyprian †258, vor allem Augustinus † 430 u. a.) führt zu einer Seelsorge durch Einschüchterung, in der die Prediger sich an die Stelle des richtenden Gottes setzen. Nur die alexandrinischen Theologen Klemens († nach 215) u. Origenes († 253) u. ihre Anhänger einschließlich der Kappadokier lassen das Erbarmen Gottes nach einem Läuterungsprozeß der Schuldiggewordenen den Sieg davontragen über das anthropomorphe Gerechtigkeitsdenken (Apokatastasis) . In der mittelalterlichen Theologie wird das Thema des G. G. im Sinn der ”Wissenden“ weiterbehandelt, so daß auch Jesus als gerechter u. nicht als erbarmungsvoller Richter dargestellt wird. Neu ist das Auseinandertreten des individuellen u. des universalen Gerichts als Themen der Theologie, mit der amtlichen Erklärung von 1336 päpstlich festgeschrieben. Während die Thematik des G. G. in der kath. Theologie im allgemeinen bis ins 20. Jh. hinein unverändert blieb: individuelles G. G. mit definitivem Urteil – Zwischenzustand der Seelen – Weltgericht mit Auferstehung der Toten , wird der Gedanke der im Leben gegenwärtigen Krisis u. Gerichtsverzweiflung, aus der nur der Glaube an Jesus Christus rettet, vonM. Luther († 1546) aus in der ev. Theologie wirksam. Hier wird das bis heute nicht einleuchtend geklärte Problem, wie sich denn individuelles u. universales G. G. zueinander verhalten (u. in welchem Sinn ”zwischen“ beiden überhaupt von ”Zeit“ gesprochen werden kann), wenigstens bewußt. Übereinstimmung besteht in der heutigen Theologie beider großen Kirchen, daß es sich beim G. G. nicht um zwei getrennte, beziehungslose ”äußere“ Veranstaltungen handelt.
   3. Heutige Gesichtspunkte. Zwei Momente sind bei heutigen Überlegungen zum G. G. von besonderer Bedeutung, abgesehen von dem wachsenden Konsens, daß es Menschen u. Kirchen nicht zukommt, sich die Rede vom G. G. nach eigenen Maßstäben zurechtzumachen u. sie zu instrumentalisieren: a) Der Gedanke, daß die Vollendung des Menschen u. seiner Freiheitsgeschichte sowie die Vollendung der Menschheit mit ihrer Freiheitsgeschichte im ganzen das Bewußtwerden der ethischen Qualität dieser Freiheitsgeschichten vor Gott bedeuten. Zu diesem Gedanken gehört die Überzeugung, daß Menschen als Personen für ihre Gesinnung u. Praxis verantwortlich sind (Verantwortung); b) in dem biblischen Zeugnis, daß Jesus der Richter sein wird, ist die Verheißung enthalten, daß das G. G. über das Böse u. über alle Schuld ein Gnadengericht sein wird. Gott, u. Gott allein, hat die Möglichkeit, Menschen vergebend so zu heilen, daß er sie als zugleich gerechter u. barmherziger Gott durch das klare Bewußtsein ihres ethischen Zustands hindurch zu sich zu retten vermag.
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