Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Existenztheologie
ist ein nicht überall eingebürgter Begriff für unterschiedliche theol. Bemühungen, die in gewisser Hinsicht von den Reflexionen der Existenzphilosophie inspiriert sind. Existenzphilosophie ist ihrerseits ein Sammelbegriff für unterschiedliche philosophische Überlegungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie vom Dasein (der menschlichen ”Existenz“) ausgehen u. das Ganze der Wirklichkeit primär als Aufgabe der menschlichen Freiheit, als Zu-Entwerfendes im Unterschied zum schlechthin Vorgegebenen, verstehen. Sie unterschied sich prinzipiell von einem Denken, das den Menschen in ein System allgemeingültiger Normen u. Werte einordnet oder nach dem ewigen Sein u. der von diesem stammenden Wesensordnung fragt. Die Existenzphilosophie ordnete bewußte Entscheidung u. Handlung vor der Suche nach Erkenntnis u. Wissen ein. Damit ist das Interesse an Sein, Erkenntnis u. Wissen nicht geleugnet, aber es ist ”eingeordnet“. Wesentliche Impulse gingen von S. Kierkegaard († 1855) u. seiner Bemühung um das ”Selbst“ als Verhältnis zu sich selber aus, doch spielten für das existenzphilosophische Denken auch F. Nietzsche († 1900), M. Scheler († 1928), E. Husserl († 1938) u. der Personalismus eine wegbereitende Rolle. Die Katastrophen der Menschheit in Weltkriegen u. Völkermord waren als ”kontextueller “ Hintergrund von größter Bedeutung. Die unterschiedlichen Gedankenrichtungen der Existenzphilosophie lassen sich mit einigen Namen verbinden. M. Heideggers († 1976) Frage nach dem ”Sinn von Sein“ ging zunächst von dem ”Da“ des Seins, also von einer Daseinsanalyse, als einzig zuverlässiger Basis des Nachdenkens aus; sie sieht das Dasein als durch die ”Sorge“ um das je eigene Sein-Können gekennzeichnet. Später suchte Heidegger die Krise des Seins durch Seinsverbergung u. Wahrheitsentzug (ausgeprägt in Wissenschaft u. Technik) zu enträtseln. K. Jaspers († 1969) sieht denMenschen in Grenzsituationen zwar auf die Frage nach der Transzendenz verwiesen, für die er jedoch nur ”Zeichen“ u. ”Chiffren“ zu entwerfen vermag. Die Erfahrung dieses Scheiterns könnte zu einer entscheidenden Existenz-Werdung verhelfen. G. Marcel († 1973) empfand die tägliche Erfahrung der konkreten leib-geistigen Existenz des Menschen als Herausforderung (Behauptung) des Seins im Menschen, sich zu ”engagieren “. In der reflektierenden, aber nie nur theoretischen Begegnung mit dem Mysterium des Seins sei eine Wiederherstellung der ursprünglichen Totalität des ”Ich bin“ möglich. Bei J.-P. Sartre († 1980) gilt der Mensch als jenes Seiende, das kein Wesen ”hat“, sondern sich in seinem Wesen entwerfen muß. Die unausweichliche menschliche Freiheit ist durch Negativität (dem Seinsmangel bis zum Nichts ausgesetzt), Autonomie (absolut fürsich sein müssen) u. Konstruktivität (zum schöpferischen Entwurf) charakterisiert u. wird durch die Angst in ihrer Absurdheit erfahren. Dennoch erhebt die praktisch-soziale Konstitution des Menschen die moralische Forderung nach Engagement. A. Camus († 1960) optiert zwischen kontemplativerWeltflucht u. ideologischem Aktivismus (den er Sartre vorwirft) für den Aufstand (die Revolte) gegen das Absurde in den Qualen des Lebens, u. darin erblickt er die Chance für eine Menschlichkeit des Lebens ohne umgreifenden Sinnzusammenhang. – Als Existenztheologie gilt zunächst die von R. Bultmann († 1976) vorgelegte ”existentiale Interpretation “ der Bibel, die auf daseinsanalytische Elemente Heideggers (Geschichtlichkeit, Sein zum Tod, Sein in der Welt) zurückgriff u. das Kerygma des NTals Ruf in die Entscheidung zu ”eigentlicher“ oder ”uneigentlicher “ Existenz verstand. Unter einer gewissen Zurücksetzung der Exegese u. neuer Hinwendung zur Dogmatik wurde die Rede von Gott unter dem Bedenken der menschlichen Existenz neu formuliert. So deutete P. Tillich († 1965) das Verhältnis zu Gott als das Verhältnis zu demjenigen, ”was uns unbedingt angeht“. H. Braun († 1991) wollte Gott interpretieren als ”das Wovonher meines Geboren- u. meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her“. Die Formulierung deutet an, daß die E. in der Folge sich stärker der Ethik zuwandte, auf der einen Seite individualistisch mit der Thematik der ”radikalen Entscheidung“ befaßt, auf der anderen Seite in die Politische Theologie eingebracht. Im Bereich der ev. Theologie u. darüber hinaus viel beachtet wandte sich P. Ricoeur den Problemen der Hermeneutik (mit starken sprachphilosophischen Gehalten) in Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus zu. Gelegentlich zeigt sich die Neigung, die Transzendentaltheologie K. Rahners († 1984) der E. zuzurechnen, doch läßt sich nicht verkennen, daß Rahner trotz bestimmter existenzphilosophischer Thematiken u. Begriffe (Existential, Auszeitigen der Endgültigkeit in der Freiheitsentscheidung, der eigene Tod als Tat, Hermeneutik eschatologischer Aussagen als Ansagen der Gegenwartssituation usw.) das Seinsdenken der klassischen Metaphysik u. ihre Begrifflichkeit immer für unverzichtbar bei der Reflexion des Glaubens vor dem Anspruch der Vernunft u. bei begrifflich klaren theol. Formulierungen hielt. Exodus (griech. = Auszug), Bezeichnung für ein im AT (Ex 1, 1 – 15, 21) erzähltes Ereignis, das im alten Israel wie im heutigen Judentum von fundamentaler religiöser Bedeutung ist, u. auch Bezeichnung für das ”zweite Buch Moses“ im AT . Die Erfahrungen eines rettenden u. befreienden Eingreifens Gottes, gefolgt von der Schaffung einer Gemeinschaft von Glaubenden, der allein er seinen Namen (Jahwe) anvertraut u. mit der er einen Bund schließt (Sinai), lassen sich weder datieren noch geographisch genau fixieren. Sie waren von Anfang an Bestandteile der Preisungen Gottes, des Bekenntnisses u. der liturgischen Feier (Pascha). Das Gedächtnis jener Rettung ist für den jüdischen Glauben die Grundlage für die Hoffnung, Gott werde immer wieder rettend u. helfend eingreifen. In neuerer Zeit wird stärker bewußt, daß Gott das Volk zu aktivem Befreiungshandeln befähigt hat, ein Gedanke, der auch von der christlichen Befreiungstheologie in Anspruch genommen wird.