Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Evangelisch
   ist ein schon in der frühen Kirche geläufiges Wort, das ein Leben gemäß dem Evangelium bezeichnet. In der Kirchengeschichte wurde es von spirituellen Bewegungen, aber auch von Reformkreisen benutzt. Den Reformatoren u. vor allem M. Luther († 1546) galt das Evangelische als Kriterium nicht nur für Kritik u. Reform der Kirche, sondern auch für den richtigen Glauben. Es ist sehr stark an Paulus orientiert: Der allein rechtfertigende Glaube (Sola fide ) ist eine personale Begegnung mit Jesus Christus im lebendigen Wort Gottes . Da die vollständige Sündigkeit des Menschen vor Gott ihn in keinerWeise dazu befähigt, etwas zu seinem Heil beizutragen, ist dieser Glaube allein aus Gnade (Sola gratia ) geschenkt, ein Wagnis gläubiger Existenz aus dem Evangelium, vom Menschen trotz der nach der Taufe bleibenden Sündigkeit (Simul iustus et peccator ) auf sich genommen. Der Glaube gründet allein auf der Heiligen Schrift (Sola Scriptura ) u. den beiden von Jesus Christus eingesetzten Sakramenten Taufe u. Abendmahl, nicht auch auf der Autorität der Kirche u. ihrer Tradition. Die Bibel soll nach Luther nicht gesetzlich, sondern als Gnadenbotschaft verstanden werden: Das ”sola Scriptura“ gilt nur, ”soweit es Christum treibet“. Jesus Christus aber ist Herr u. Erlöser, menschgewordener Gott, wie es das festzuhaltende altkirchliche Dogma sagte. Er ist nicht Gesetzgeber u. Stifter der Kirche im römisch-katholischen Sinn. Er ist gegenwärtig durch den Heiligen Geist inWort u. Sakrament, mit der Betonung desWortes: die Predigt steht im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Diese Gegenwart Jesu Christi in seiner Kirche steht nicht im Zeichen der zwar zukünftigen, jetzt aber schon anbrechenden Herrlichkeit, sondern im Zeichen des Kreuzes u. Leidens, der Sünde, als deren Folge dann auch die Spaltung der Christenheit verstanden wird. Gnade ist Gottes Gnädigsein in Jesus Christus (Rechtfertigung). Sie ist zwar die wirkliche Neuschöpfung des Menschen zur neuen Kreatur, bringt zwar gute Werke hervor, ist aber nie so demMenschen gegeben, daß er nicht Sünder bliebe. Ein unfehlbares Lehramt gibt es nicht; das Wort der Heiligen Schrift legt sich selber aus. Hinsichtlich der Auffassung des Kirchenrechts u. des Amtes gibt es in den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen große Unterschiede. Gemeinsam u. grundlegend ist die Ablehnung eines geweihten Priestertums u. des Meßopfers; daher wird der Aufbau der Kirchen aufgrund des allgemeinen Priestertums der Gläubigen von der Gemeinde her verstanden. Die geläufige Zusammenfassung des Evangelischen auf die Formel von der ”Freiheit eines Christenmenschen“ ist heute insofern mißverständlich, als sie ursprünglich nicht, wie in manchen späteren ”liberalen “ Ausprägungen, die Freiheit von der Gewissensbindung an Dogma u. Bekenntnis (vor allem zur Gottheit Jesu Christi) meinte, sondern negativ die Freiheit von kirchlicher Gesetzlichkeit, positiv die vom Heiligen Geist gewirkte Spontaneität der Gottesliebe zum Tun des Willens Gottes. – Der Begriff ”Protestantismus“ (lat. = Bewegung des Widerspruchs) wurde von der sog. Protestation lutherischer Reichsstände auf dem 2. Reichstag zu Speyer 1529 für die Gesamtheit der aus der Reformation des 16. Jh. hervorgegangenen Glaubensgemeinschaften u. deren theol. Lehren verwendet, denen als Grundzug der Protest gegen das Römisch-Katholische gemeinsam war. Im Wort ”Protestantismus“ kommt dasjenige, was die Reformatoren positiv als Rückkehr zum Evangelium beabsichtigten, nicht so gut zum Ausdruck. Zu den schon im 16. Jh. entstandenen konfessionellen (bekenntnismäßigen u. institutionellen) Differenzierungen in ”Lutheraner“ u. ”Reformierte“ kamen noch viele andere (Anglikanische Kirche, Methodisten, Freikirchen usw.) hinzu, deren Selbstverständnis heute sämtlich nicht durch den bloßen Protest gegen das Römisch-Katholische gekennzeichnet ist, so daß ”evangelisch“ die bessere Sammelbezeichnung bleibt. Das Römisch-Katholische bedarf des Evangelischen u. seines Einspruchs zur ständigen Besinnung u. Korrektur.
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