Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Ethik
(griech. = die Lehre vom sittlichen Sollen) als Wissenschaft ist ein grundlegender Teil der praktischen Philosophie (manchmal auch ”Moralphilosophie “ genannt). Sie befaßt sich mit den Normen für das menschliche Handeln u. mit deren vernunftmäßiger u. argumentativer Begründung. Die philosophische E. ist streng zu unterscheiden von einer theol. E. (vorwiegend im kath. Sprachgebrauch Moraltheologie genannt), die die Normen für das sittliche Handeln von dem in der Offenbarung ergangenen u. von der Kirche bezeugten Wort Gottes her begründet. Die philosophische E., die sich mit der Sittlichkeit des Menschen befaßt, wendet ihre wissenschaftlich-methodische Reflexion einem Urphänomen im Selbstverständnis des Menschen zu: Der Mensch erfährt sich in seinem Selbstvollzug als einWollender, der sich selber in der Aktualisierung dieses Wollens ”willig“ (frei-willig) auf das Gute oder auf das Böse hin verfügt. Im freien Selbstvollzug des Menschen als geistiger Person ist dieser Unterschied zwischen Gut u. Böse in Gesinnung u. Handlung immer schon mitgewußt. Die sich selber frei vollziehende Person erfährt sich selber dabei als sittlichen Grundwert. In einer am Glauben orientierten philosophischen E. wird diese ”Grund-Wert-Erfahrung“ thematisiert; von ihr aus kann die geistige Person als eine verstanden werden, die zugleich ihre ”Natur “ (Sittengesetz) u. ihre Hinordnung auf ein letztes Ziel sittlich-verantwortlich vollzieht, die als solche absolut gewollt ist, so daß aus ihrer absoluten Gewolltheit der unbedingt verpflichtende Charakter jener sittlichen Werte abgeleitet werden kann u. muß, die der Verwirklichung jener absolut gewollten geistigen Person dienen. In der philosophischen E. werden in sinnvollerWeise die einzelnen Seinsbezüge dieser Person, ihr Verhältnis zu sich selber, zu anderen freien Personen (Mitmenschen), zur Menschengemeinschaft im ganzen, zur Umwelt u. letztlich zu Gott einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen u. für die konkreten Vollzüge konkrete ethische Normen formuliert. Eine Aufteilung dieser Analyse führt zur Unterteilung der allgemeinen E. in eine Individualethik u. in eine Sozialethik (vielfach spezialisiert, z. B. als Wirtschaftsethik, Umweltethik usw.). Der sich daraus ergebenden objektiven sittlichen Ordnung ist die unmittelbare subjektive Norm des jeweils sittlich Handelnden zuzuordnen: das Gewissen des einzelnen Menschen, dessen Spruch letztlich denWert oder Unwert einer konkreten Handlung bestimmt. Somit ergeben sich letzte Prinzipien für das Gewissen wie: Objektiv schlechte Mittel werden nicht durch einen subjektiv guten Zweck gerechtfertigt; ein als verpflichtend begriffener sittlicher Wert kann nicht einem vorsittlichen Teilwert des menschlichen Daseins geopfert werden. – Die Analyse des Gesollten kann anhand leitender Schwerpunktsetzungen erfolgen. Demgemäß lassen sich in der Geschichte der E. unterscheiden: Tugendethik, von Aristoteles († 322 v.Chr.) in der Entwicklung des systematischen Verständnisses der Tugend konzipiert; Gesetzesethik, von Thomas von Aquin († 1274) auf der Basis der Tugendlehre als Theorie des Sittengesetzes erörtert; Pflichtethik nach I. Kant († 1804) als Bewußtsein der mit dem Kategorischen Imperativ gegebenen moralischen Verpflichtung (im 20. Jh. weiterentwickelt in der auf Konsens hin orientierten Diskursethik); Nutzenethik als Reflexion über einen Ausgleich der individuellen Eigeninteressen (Utilitarismus); Wertethik (M. Scheler † 1928; N. Hartmann †1950) mit dem Ausgangspunkt bei den von allen Menschen ”erfühlbaren“ Grundwerten. Im Zusammenhang mit solchen unterschiedlichen Konzeptionen ist der von M. Weber († 1920) thematisierte Unterschied von Gesinnungsethik u. Verantwortungsethik von Bedeutung. Schließlich bedingen auch komplexe Tätigkeitsfelder eigene ethische Konzeptionen (z. B. ”medizinische E.“).