Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Erscheinungen
   (Visionen) sind psychische Erlebnisse, über die visionäre Menschen berichten, sie hätten Personen (z.T. auch Objekte), die für die normale menschliche Erfahrung unzugänglich, unsichtbar u. unhörbar sind, auf sinnenfällige Weise wahrgenommen.   1. Vorkommen u. Eigenart. In der Religionsgeschichte sind Erzählungen von E. in großer Mannigfaltigkeit registriert. ATu. NT berichten von E. Gottes (Theophanie), E. von Engeln u. von verstorbenen Menschen. Die Beurteilung solcher Berichte muß zwei Faktoren berücksichtigen, die Glaubwürdigkeit der Erzählenden unter Beachtung der Umstände (Erschrecken; E. in Träumen usw.) u. die literarische Gestaltung (Intentionen u. Interessen). Zu den E. des vom Tod auferweckten Jesus: Auferstehung Jesu Christi . In der Geschichte der Mystik wird zwischen E. u. Visionen unterschieden. Visionen wären demnach die vorwiegend geistigen Vorgänge (innerliches Sehen), während E. von den äußeren Sinnesorganen wahrgenommen würden. Psychologische u. ärztliche Untersuchungen wenden sich Teilaspekten der Berichte über E. zu: E. als optische Phänomene u. damit oft verbundene akustische Wahrnehmungen (Auditionen) werden als Halluzinationen untersucht, weil sie auch experimentell (durch Drogen, Chemikalien) hervorgerufen u. wiederholt werden können. Autosuggestionen u. Massensuggestionen kommen in Betracht. Heftige psychische Erlebnisse, unter Umständen durch Fremdbeeinflussung stimuliert u. gesteigert, können nach außen projiziert werden (auch als Wunscherfüllungen aus dem Unbewußten; bei fehlgeleiteter religiöser oder sexueller Erziehung auch als Selbstbestrafung: Besessenheit) . Berichte über E. zeigen häufig die psychischen Vorprägungen durch Umwelt u. Kontext (die Personen tragen zeitbedingte Kleidung u. sprechen zeitgenössische Sprache mit diskutierten religiös-theol. Aktualitäten, Engel sind geflügelt, Themen beziehen sich auf aktuelle Konflikte usw.). Von E. ist zu allen Zeiten der Geschichte des Christentums berichtet worden; sie waren von großem Einfluß auf die offizielle Liturgie (eucharistische Prozessionen, Herz-Jesu-Verehrung, Rosenkranzandachten), deren Wert als Glaubensquelle daher kritisch zu betrachten ist, u. auf die Volksreligiosität (Wallfahrten). Die Gefahren durch Wundersucht, leichtgläubige Verführbarkeit u. Habgier sind evident. Auffallend ist die Häufung der Marienerscheinungen in der Neuzeit, sporadisch auch bei ostkirchlich-orthodoxen Christen, nicht jedoch im evangelischen Bereich: 1993 waren im kath. Bereich aus der ganzen Geschichte 918 Marienerscheinungen registriert, davon 106 aus dem 19. u. 427 aus dem 20. Jh.
   2. Theol. Aspekte. Berichte über bloße psychische Erlebnisse haben keinerlei theol. Bedeutung; sind sie nicht mit Sensationsmache, Geltungsdrang u. Friedensstörung verbunden, können sie als Manifestationen gesteigerter Religiosität toleriert werden. Die meisten E. sind jedoch mit ”Botschaften“ verbunden, die individuelle, aber auch kirchliche Geltung beanspruchen. Für sie gilt das theol. Urteil, daß sie ausnahmslos zu den Privatoffenbarungen gehören. Auch wenn sie sich auf Gott, Maria, Engel oder Heilige als Autoren berufen, sind darin keinerlei Autorisierung u. Authentizitätsnachweis zu sehen. Ob ihre Inhalte privat oder kirchlich ernsthaft beachtet u. akzeptiert werden können, hängt davon ab, inwieweit sie mit sicheren Inhalten der Offenbarung Gottes übereinstimmen. Über diese ”mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossene“ öffentliche Offenbarung hinaus ist keine inhaltlich neue Offenbarung mehr bis zur Vollendung der Geschichte mit der Parusie zu erwarten (II. Vaticanum DV 4 ). Dementsprechend könnten ”Botschaften“ bei E. ausschließlich den Sinn haben, Vertiefungen einer bestimmten Überzeugung zu bewirken, auf vernachlässigte Schwerpunkte aufmerksam zu machen. Auffällig sind das häufige Vorkommen von Selbstverständlichkeiten (vermehrte Gebete, Förderung des Friedens usw.) wie auch pathogenes Sühneverlangen. Daß sich Gott bei der Vermittlung seiner Impulse kreatürlicher Botinnen u. Boten bedient, kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen, kann aber auch in keinem einzelnen Fall von E. nachgewiesen werden. Die kirchliche Leitungsinstanz besteht auf ihrer (im 18. Jh. geregelten) Kompetenz, E. zu beurteilen.Wenn sie eine Erscheinung ”anerkennt“, so bedeutet das nicht, daß diese tatsächlich stattgefunden hat oder daß ihre ”Botschaft“ im Glauben anzunehmen sei; auch Katholiken sind grundsätzlich frei, E. anzunehmen oder abzulehnen. Die kirchliche Approbation bezieht sich nur auf die Nichtwidersprüchlichkeit einer ”Erscheinung “ u. ihrer ”Botschaft“ im Verhältnis zur Offenbarung.
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