Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Erlösung
   besagt in einem allgemeinen Sinn, daß menschliche Zustände u. Befindlichkeiten, die vom Menschen (individuell u. kollektiv) als unvermeidlich gegeben u. als unheilvoll empfunden werden u. die durch keine eigene Kraft aufgehoben werden können, endgültig überwunden werden. Wird diese Begriffsbestimmung auf E. im religiösen Sinn angewendet, dann fragt sich, worin der Unheilszustand gesehen wird (”wovon erlöst?“), durch wen er überwunden wird u. worin der endgültige Zustand besteht (”wohin erlöst?“).   1. Biblisch. Weder im AT noch im NT existiert ein dominierender, sich durchhaltender Begriff für E. Vielfältig sind die Zeugnisse des AT über Unheilszustände, in denen sich einzelneMenschen u. das Eigentumsvolk Gottes befinden (Schuld, Krankheit, Hunger, Entbehrungen, Verfolgung, Verschleppung, Tod). Aus allen diesen Elendszuständen vermag Gott zu retten; um seine Hilfe wird flehentlich gebetet. So treten häufig Begriffe mit der weiten Bedeutung von ”helfen“, ”retten“, ”befreien “, verbunden mit den Bekundungen festesten Vertrauens auf Gott, auf. Die Erfahrungsbasis für dieses Vertrauen war mit der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten gegeben, sie wurde durch die stete Erinnerung immer neu bekräftigt. Entsprechend dieser Befreiung wurde auch die Ermöglichung der Heimkehr aus dem Exil in Babylon dem Retter-Gott zugeschrieben. Neben den Begriffen für Hilfe u. Rettung finden sich solche mit der Bedeutung ”loskaufen“, ”auslösen“. Sie legen die Meinung nahe, ”jemandem“ würde ein Kaufpreis entrichtet, doch wird dazu nichts gesagt. Der endgültige Zustand nach dem befreienden Handeln Gottes tritt in den eschatologischen Ansagen der Propheten u. der Apokalyptik zutage (Versöhnung von Juden u. ”Heiden“, vonMenschen u. Natur, Vernichtung des Todes u. allen Leids, ewige Lebensgemeinschaft mit Gott). – Im NT gelten bei Jesus entsprechend dem AT zunächst der konkrete Zustand der Armen, Kranken u. Benachteiligten, dann auch die Schuldverhaftung als Unheil, aus dem der Gott Jesu Rettung verspricht. Das vonMenschen nicht zu verwirklichende Heil besteht in der Errichtung der universalen Herrschaft Gottes , die Jesus in den Gleichnissen von Befreiung u. Vergebung umschreibt u. in seiner heilenden u. vergebenden Praxis verdeutlicht; er ermutigt zu Umkehr u. zur Lebensorientierung am Reich Gottes, um es schon jetzt erfahrbar zu machen. Ohne jeden Zweifel war die Verwirklichung dieses Heils schöpfungsbejahend-diesseitig gemeint. Ein Begriff, der dem theol. Begriff E. entspräche, fehlt bei Jesus. – Paulus versteht unter der Unheilssituation, aus der kein Mensch sich mit eigener Kraft befreien kann, den alle Menschen betreffenden Zustand der Knechtschaft unter der Macht der Sünde, die den Menschen spaltet u. besiegt. Jesus Christus hat auf die Initiative des göttlichen Vaters hin durch seinen Gehorsam, der ihn ans Kreuz brachte, diese Macht der Sünde gebrochen u. die Rechtfertigung der Sünder durch den Glauben ermöglicht, so daß sie durch den Heiligen Geist zu einem neuen Leben befähigt sind (diese umfassende Sicht auf das Heilsgeschehen wird prägnant im Röm vorgetragen). Das Geschehen wird an einigen Stellen mit Begriffen wie ”loskaufen“ (vom Fluch des Gesetzes) u. ”Kaufpreis“ umschrieben. Man darf nicht verbieten zu fragen, an wen denn der Kaufpreis bezahlt wurde. Das Ziel, der Heilszustand, ist bei Paulus ohne Zweifel ”weltjenseitig“ ”im Himmel“, wenn auch das neue Leben im göttlichen Geist ”diesseitige“ Früchte heiler u. versöhnter Zustände mit sich bringt. – Im johanneischen Schrifttum ist die Welt “ im ganzen unheilvoll, von Haß u. Sünde geprägt, Finsternis, u. doch von Gott geliebt, der den Sohn sandte als Licht u.Wegweisung u. der den Glaubenden ”schon jetzt“ Ewiges Leben schenkt. Der Sohn trug die Sünde derWelt u. starb für ihr Leben. – Hebr sieht den Inbegriff des Heilsgeschehens, das er in einer Opfersprache schildert, in der Tilgung der Sünden. Bei einem Überblick über biblische Aussagen, die die Unheilssituation u. die Rettung aus ihr betreffen, ergibt sich eine Übereinstimmung darin, daß menschliche Anstrengungen zu einer umfassenden Befreiung nicht fähig sind. Ein eindeutiger Begriff für E. fehlt jedoch; der Begriff ”Loskauf“ (lat. ”redemptio“, griech. ”apolytrosis“) ist mißverständlich. Von der Hoffnung Israels auf Rettung u. der Gottesreich-Verkündigung Jesu verschob sich die Betrachtungsweise zunehmend in die Richtung eines einseitig moralischen Verständnisses.
   2. Zur Theologiegeschichte. Der Glaube an die Verheißungen Gottes u. der Lobpreis für sein rettendes Eingreifen, insbesondere in Jesus Christus, prägten von Anfang an Leben u. Liturgie der Kirche, in der die biblischen Zeugnisse in ihrer Vielfältigkeit erinnernd vorgetragen wurden. Ein einheitliches theol. Verständnis von E. ergab sich jedoch nicht, auch nicht in kirchlich-amtlichen Aussagen. So sind mehrere ”Modelle“ kurz zu registrieren. Auch die Unheilssituation, von der die Reflexion über E. fast immer ausgeht, wird nicht genau einheitlich verstanden. Ehe die Theorie der Erbsünde u. ihrer Folgen sich durchgesetzt hatte, wurden eher das Verfallensein an die materielle Welt u. ihre Hinfälligkeit, die Vergänglichkeit, als Inbegriff des Unheils gesehen. So konnten Erlösungsvorstellungen entstehen, in deren Zentrum nicht das Kreuz, sondern die Menschwerdung stand u. deren Ziel die Erneuerung der Menschheit war (Anakephalaiosis; Irenäus von Lyon † um 202). Auch dort, wo die Heilsgeschichte als ein Prozeß göttlicher Pädagogik zu immer tieferer Erkenntnis aufgefaßt wurde (Alexandrinische Theologenschule ), wurde das erzieherische Wirken des menschgewordenen Logos Gottes stärker betont als sein Sterben. In der lat. wie in der griech. Vätertheologie spielte der Tauschgedanke eine große Rolle: Fleischwerdung des göttlichen Logos gegen Vergöttlichung des Menschen, oder Übernahme der Sterblichkeit durch den Sohn Gottes, um der Menschheit Unsterblichkeit zu erwirken. Eine deutlichere Profilierung erfährt die Lehre von der E., die Soteriologie, erst durch die Satisfaktionstheorie Anselms von Canterbury († 1109), in deren Mitte die Wiederherstellung der verletzten Ehre Gottes durch die Genugtuung, die ihm Jesus Christus als ein Subjekt unendlicher Würde leistete, stand. Diese stark juridisch geprägte Vorstellung beherrschte amtliche Äußerungen u. Soteriologie bis ins 20. Jh.
   3. Systematische Gesichtspunkte. Ein heute unbestrittener Ausgangspunkt jedes Nachdenkens über E. besteht darin, daß E. keinesfalls verstanden werden darf als Umstimmung u. Versöhnung eines zürnenden Gottes, der sogar auf dem blutigen Tod seines eigenen Sohnes bestanden hätte. Eine ausschließliche Konzentration der Sündenvergebung auf Leben u. Sterben Jesu Christi steht im Widerspruch zum vergebungsbereiten Bund Gottes mit der Menschheit in Noach u. Abraham u. mit dem einzigartigen Bund Gottes mit seinem Eigentumsvolk Israel, dessen Sünden in der immer wieder möglichen Erneuerung des Bundes durch Gott vergeben werden u. wurden. Wenn Jesus seine Sendung gehorsam erfüllt bis zum Tod am Kreuz, dann ist dieses Geschehen mit der Auferweckung durch den Vater zusammenzusehen als wirksames Zeichen der göttlichen Liebe; es muß nicht notwendigerweise als stellvertretende Sühne interpretiert werden. Bei H. U. von Balthasar († 1988) ist der Stellvertretungsgedanke auf die Spitze getrieben: Er gründet in einem innertrinitarischen Drama, in dem zunächst der göttliche Vater in einer Ur-Kenose (Kenosis) sich seiner Göttlichkeit entledigt hat, um dann den Sohn zu verlassen, der in seiner Gottverlassenheit den Fluch der Sünde radikal stellvertretend für alle zu erleiden u. aufzuheben hat. Mag diese Sicht auch einer visionären Mystik entspringen, Bestand vor den biblischen Zeugnissen hat sie nicht, so wenig wie die Umdeutung Jesu zum ”Sündenbock“ im Versuch einer ”dramatischen Soteriologie“, wonach die Menschen alles bei ihnen komprimierte Böse einem unschuldigen Opfer aufladen. Bei der Erneuerung der Theologie in der 2. Hälfte des 20. Jh. trat immer deutlicher derWunsch hervor, ohne Vernachlässigung der Frage nach derWiederherstellung der durch die Sünde gestörten Gottesbeziehung zu der Hoffnung auf Rettung aus unheilen ”diesseitigen“ Zuständen zurückzukehren. Es handelt sich weder um die Behauptung einer Selbsterlösung noch um eine angezielte universale Befreiung, es handelt sich aber um eine Perspektive, die den Wunsch nach ”ganzheitlicher“ Heilung u. nach der ”Erfahrbarkeit“ von E. ernst nimmt. Das Befreiungshandeln Jesu wird in der Sicht der Befreiungstheologie engstens mit dem Befreiungshandeln der Menschen verbunden. Darin liegt dann nicht ein Rückfall in gottwidriges, autonomes Leistungsdenken, wenn die menschliche Freiheit im Glauben als gnadenhaft befreite Freiheit verstanden wird. Wird das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung u. zur Menschheit als die Geschichte seiner Selbstmitteilung gesehen, u. entspricht diese Geschichte dem souveränen u. wirksamen Liebeswillen Gottes, dann kann diese Geschichte durch menschliche Verweigerung u. Schuld nicht zerstört werden. Den Höhepunkt erreicht diese Geschichte dann, wenn Gott sie sich zu seiner eigenen macht (obwohl, aber nicht weil sie eine Geschichte der Schuld ist) u. wenn die Kreatur diese Selbstmitteilung Gottes in einer von Gott ermöglichten Freiheitstat annimmt. Eine Theologie des Todes kann aufzeigen, daß im Tod (als Tun der Freiheit u. als Erleiden der Schuldsituation) die radikale Annahme der Selbstmitteilung Gottes durch den Menschen geschieht. So ließe sich die E. im engeren theol. Sinn als E. durch das Kreuz u. den Tod Jesu verstehen, ohne daß zu Sühne- u. Genugtuungsvorstellungen gegriffen werden müßte. Wird E. im vollen Sinn des Begriffs verstanden, dann ist die von Gott vielfach verheißene E. ohne Zweifel noch nicht eingetreten. Darum ist das Leben der Glaubenden charakterisiert als Existenz ”auf Hoffnung hin“ (Röm 8, 21 24) in der Erwartung der kommenden E., die erst dann eingetreten sein wird, wenn Leiden, Vergänglichkeit u. Tod aufgehoben sind u. auch die gesamte Schöpfung einbezogen ist (Röm 8, 18–25). Darum bitten Vaterunser u. Liturgie um das Kommen der E. Christen brauchen sich daher nicht (durch F. Nietzsche †1900 u. a.) wegen ihres unerlösten Aussehens verspotten zu lassen. In diesem Sinn besteht eine große Glaubens- u. Hoffnungsgemeinschaft der Juden u. Christen als derer, die nach der von Gott versprochenen E. immer noch Ausschau halten.
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