Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Erbsünde
ein deutsches, mißverständliches Wort, im 15.–16. Jh. geprägt u. von M. Luther († 1546) verbreitet, mit dem in der heutigen Theologie eine negative Vorprägung der ganzenMenschheit bezeichnet wird, eine Vorprägung, weil sie von Anfang an u. universal existiert u. individuellen Fehlhaltungen u. -entscheidungen vorausliegt, negativ, weil sie eine Schuldverflechtung (”Unheilslast“) bedeutet, von der die Menschheitsgeschichte geprägt ist.Mißverständlich ist dasWort, weil ”Sünde“ in diesem Fall nicht eine zurechenbare Tat bezeichnet u. weil eine wirkliche, verantwortbare Sünde nicht vererbt werden kann. Die klassische Theologie ging davon aus, daß der ”erste Mensch“ (Adam mit Eva) eine persönliche Sünde beging, die Ursünde (lat. ”peccatum originale originans“), deren Unheilsfolgen auf die Menschheit übergingen (”peccatum originale originatum“). 1. Biblisch. Der in Gen 3 erzählte ”erste Sündenfall“ wird in der biblischen Weisheitsliteratur als Einbruch der Sünde in die Menschheitsgeschichte gedeutet, der den Tod der Menschen zur Folge gehabt habe (Sir 25, 24; Weish 2, 24). In der negativen Sicht der Apokalyptik wird diese düstere Sicht auf die Menschheitsgeschichte weiter ausgebreitet. Der Einfluß dieser Deutung auf Paulus ist offensichtlich; sein Rückgriff auf den mythologischen ”Adam“, dessen Ungehorsam u. die Folgen (Röm 5, 12 ff.; 7, 7–12; 8, 20) dient als der klassische biblische Beleg für die kirchliche Lehre von der E. Indessen lehrt Paulus keine E., vielmehr führt er den Tod auf die zurechenbaren persönlichen Sünden aller zurück: Die Menschen sind dem Tod verfallen, ”weil (griech. eph’hoo) alle gesündigt haben“. Die lat. Bibelübersetzung gab dieses ”weil“ nicht mit ”quia“, sondern fälschlich mit ”in quo“ (”in welchem“, nämlich ”in Adam“) wieder, so daß die spätere Erbsündentheologie alle Menschen im Samen Adams eingeschlossen u. von seiner Sünde mitbetroffen annehmen konnte. So sehr beide Testamente der Bibel das universale Vorkommen u. die Macht der Sünde bezeugen, so wenig finden sich Texte über eine E.
2. Theologiegeschichtlich. Erste Ansätze zu einer Erbsündentheologie ergaben sich im 3. Jh. durch die Praxis der Kindertaufe, aus der man schlußfolgerte, ”etwas“ im Kind sei der Vergebung bedürftig. Die Nachwirkung der eben genannten Fehlübersetzung ist bei Ambrosius († 397) greifbar. Vor Augustinus († 430) u. in der östlichen Theologie galt die Aufmerksamkeit jedoch der Ausstattung der paradiesischen Menschen (”Urstand“) u. deren Verlust als Folge der Ursünde u. nicht dem Schuldcharakter. In der Auseinandersetzung des Augustinus mit dem Pelagianismus enstand unter Rückgriff auf Röm 5, 12 u. die Praxis der Kindertaufe die eigentliche Erbsündentheologie: Die Schuld Adams sei auf die ganze von ihm abstammende Menschheit übergegangen, so daß sie bis auf ganz wenige Gerettete auf ewig verdammt werden würde (sie bilde eine ”massa damnationis“ oder ”damnata“). Die Weitergabe geschehe durch die sexuelle Begierde. Die Straffolgen der E. (bei Augustinus erstmals ”peccatum hereditarium“) seien neben der Höllenstrafe die Begierde, der Verlust der Freiheit, gut zu handeln, intellektuelle Defekte u. der leibliche Tod allerMenschen. Die Existenz der E. u. der Tod als ihre Folge wurden von der Synode von Karthago 418, die auf Betreiben des Augustinus den Pelagianismus verurteilte, als kirchliche Glaubenslehre bezeichnet (mit nachfolgender päpstlicher Bestätigung). Die mittelalterliche Scholastik befaßte sich mit dem Problem, inwiefern die E. eine Sünde sei u. Straffolgen haben könnte. Zu späterer Geltung kamen die Auffassungen Anselms von Canterbury († 1109) u. Thomas’ von Aquin († 1274), die den Schuldcharakter bei den Nachkommen Adams nicht in einem Tatbestand, sondern im Fehlen eines ”an sich“ Gott geschuldeten Zustands, nämlich der ”Urstandsgerechtigkeit“ (Heiligmachende Gnade ), sahen. Das Konzil von Trient erließ ein Dekret über die E., weil M. Luther († 1546) dasWesen der E. in der Begierde gesehen hatte, aber auch, weil man in der zeitgenössischen Theologie (etwa bei Erasmus von Rotterdam †1536) pelagianische Tendenzen vermutete. Diese Lehre bewegt sich im Rahmen der antiken Vorstellungswelt: daß ”Adam“ durch seine Sünde für sich u. alle Nachkommen Heiligkeit u. Gerechtigkeit verloren habe; daß diese Sünde allen Menschen zu eigen sei, auch den Kleinkindern; daß sie durch Fortpflanzung (”propagatione“), nicht durch Nachahmung übertragen werde; daß die Schuld der E. durch die Taufe getilgt, aber die Begierde, die zur Sünde geneigt macht u. selber keine Sünde sei, nicht hinweggenommen werde. In der späteren Lehrentwicklung spielte die Bewahrung Marias vor der E. (Unbefleckte Empfängnis Marias ) eine Rolle. Durch zwei Faktoren wurde die Lehre von der E. in Frage gestellt. Im Gefolge der Aufklärung wurde eine Kollektivhaftung für eine fremde Schuld abgelehnt u. auf die Unverhältnismäßigkeit der Strafe hingewiesen, die unweigerlich eine Deformierung der Gottesvorstellungen zur Folge habe. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten, daß der Tod nicht durch den Sündenfall in die Geschichte kam (so noch der Weltkatechismus von 1992), sondern allem Lebendigen genetisch einprogrammiert ist, u. daß die Hominisation in verschiedenen Regionen der Erde in Populationen, nicht in einem Paar, erfolgte.
3. Aktuelle Aspekte. In der kath. Theologie des 20. Jh. sind mehrere Versuche zu registrieren, die kirchliche Lehre über die E. zu ”retten“. Sie kommen darin überein, daß eine universale Schuldverfallenheit der Menschheit von Anfang an u. die Notwendigkeit einer Erlösung aller durch Jesus Christus angenommen werden, u. daß einWiderspruch zu naturwissenschaftlichen Befunden vermieden werden muß. Dabei konnten sie zwei Probleme nicht lösen, die genauere Herkunft der universalen Unheilssituation u. die genauere Bedeutung u. Tragweite von Erlösung (deren Begriff ungeklärt bleibt). Im einzelnen wurde die E. gedeutet als Preis der Evolution u. der menschlichen Freiheit, als vorpersonales Existential, durch welches jedes einzelne Leben in einen Unheilszusammenhang hineinverflochten ist, der seinerseits Anreize zu persönlicher Sünde enthält u. die ”strukturelle Sünde“ des gesellschaftlichen Unrechts gebiert, u. als Verfallenheit an die Angst u. Verzweiflung (die an Gott irre werden läßt). Die Frage, inwieweit Gottes ”dunkle Seite“ für die Übel in der Welt u. damit für eine aus der Leiderfahrung entstehende Verweigerung ihm gegenüber verantwortlich ist, wurde nicht ernsthaft angegangen.
2. Theologiegeschichtlich. Erste Ansätze zu einer Erbsündentheologie ergaben sich im 3. Jh. durch die Praxis der Kindertaufe, aus der man schlußfolgerte, ”etwas“ im Kind sei der Vergebung bedürftig. Die Nachwirkung der eben genannten Fehlübersetzung ist bei Ambrosius († 397) greifbar. Vor Augustinus († 430) u. in der östlichen Theologie galt die Aufmerksamkeit jedoch der Ausstattung der paradiesischen Menschen (”Urstand“) u. deren Verlust als Folge der Ursünde u. nicht dem Schuldcharakter. In der Auseinandersetzung des Augustinus mit dem Pelagianismus enstand unter Rückgriff auf Röm 5, 12 u. die Praxis der Kindertaufe die eigentliche Erbsündentheologie: Die Schuld Adams sei auf die ganze von ihm abstammende Menschheit übergegangen, so daß sie bis auf ganz wenige Gerettete auf ewig verdammt werden würde (sie bilde eine ”massa damnationis“ oder ”damnata“). Die Weitergabe geschehe durch die sexuelle Begierde. Die Straffolgen der E. (bei Augustinus erstmals ”peccatum hereditarium“) seien neben der Höllenstrafe die Begierde, der Verlust der Freiheit, gut zu handeln, intellektuelle Defekte u. der leibliche Tod allerMenschen. Die Existenz der E. u. der Tod als ihre Folge wurden von der Synode von Karthago 418, die auf Betreiben des Augustinus den Pelagianismus verurteilte, als kirchliche Glaubenslehre bezeichnet (mit nachfolgender päpstlicher Bestätigung). Die mittelalterliche Scholastik befaßte sich mit dem Problem, inwiefern die E. eine Sünde sei u. Straffolgen haben könnte. Zu späterer Geltung kamen die Auffassungen Anselms von Canterbury († 1109) u. Thomas’ von Aquin († 1274), die den Schuldcharakter bei den Nachkommen Adams nicht in einem Tatbestand, sondern im Fehlen eines ”an sich“ Gott geschuldeten Zustands, nämlich der ”Urstandsgerechtigkeit“ (Heiligmachende Gnade ), sahen. Das Konzil von Trient erließ ein Dekret über die E., weil M. Luther († 1546) dasWesen der E. in der Begierde gesehen hatte, aber auch, weil man in der zeitgenössischen Theologie (etwa bei Erasmus von Rotterdam †1536) pelagianische Tendenzen vermutete. Diese Lehre bewegt sich im Rahmen der antiken Vorstellungswelt: daß ”Adam“ durch seine Sünde für sich u. alle Nachkommen Heiligkeit u. Gerechtigkeit verloren habe; daß diese Sünde allen Menschen zu eigen sei, auch den Kleinkindern; daß sie durch Fortpflanzung (”propagatione“), nicht durch Nachahmung übertragen werde; daß die Schuld der E. durch die Taufe getilgt, aber die Begierde, die zur Sünde geneigt macht u. selber keine Sünde sei, nicht hinweggenommen werde. In der späteren Lehrentwicklung spielte die Bewahrung Marias vor der E. (Unbefleckte Empfängnis Marias ) eine Rolle. Durch zwei Faktoren wurde die Lehre von der E. in Frage gestellt. Im Gefolge der Aufklärung wurde eine Kollektivhaftung für eine fremde Schuld abgelehnt u. auf die Unverhältnismäßigkeit der Strafe hingewiesen, die unweigerlich eine Deformierung der Gottesvorstellungen zur Folge habe. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten, daß der Tod nicht durch den Sündenfall in die Geschichte kam (so noch der Weltkatechismus von 1992), sondern allem Lebendigen genetisch einprogrammiert ist, u. daß die Hominisation in verschiedenen Regionen der Erde in Populationen, nicht in einem Paar, erfolgte.
3. Aktuelle Aspekte. In der kath. Theologie des 20. Jh. sind mehrere Versuche zu registrieren, die kirchliche Lehre über die E. zu ”retten“. Sie kommen darin überein, daß eine universale Schuldverfallenheit der Menschheit von Anfang an u. die Notwendigkeit einer Erlösung aller durch Jesus Christus angenommen werden, u. daß einWiderspruch zu naturwissenschaftlichen Befunden vermieden werden muß. Dabei konnten sie zwei Probleme nicht lösen, die genauere Herkunft der universalen Unheilssituation u. die genauere Bedeutung u. Tragweite von Erlösung (deren Begriff ungeklärt bleibt). Im einzelnen wurde die E. gedeutet als Preis der Evolution u. der menschlichen Freiheit, als vorpersonales Existential, durch welches jedes einzelne Leben in einen Unheilszusammenhang hineinverflochten ist, der seinerseits Anreize zu persönlicher Sünde enthält u. die ”strukturelle Sünde“ des gesellschaftlichen Unrechts gebiert, u. als Verfallenheit an die Angst u. Verzweiflung (die an Gott irre werden läßt). Die Frage, inwieweit Gottes ”dunkle Seite“ für die Übel in der Welt u. damit für eine aus der Leiderfahrung entstehende Verweigerung ihm gegenüber verantwortlich ist, wurde nicht ernsthaft angegangen.