Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Entfremdung
   in der Antike ein juristischer Begriff für die Übertragung von (Besitz-)Rechten an einen anderen (”alienatio“); in der Theorie des ”Gesellschaftsvertrags“ bei J.-J. Rousseau († 1778) die Übertragung bestimmer individueller Freiheitsrechte (”aliénation“) an die Gesellschaft. G. W. F. Hegel († 1831) verstand unter E. die Durchgangsstufe des ”Selbstverlusts“ bei der ”Bildung“ des Bewußtseins, aber auch den realen Abstand des Innerlichen vom äußerlich-geschichtlich Wirklichen; ferner ist E. wesensmäßig mit Arbeit u. daher mit dem Menschen verbunden, weil die Arbeit sich im Hergestellten vom arbeitenden Menschen ablöst u. ihm ”fremd“ gegenübertritt. Für K. Marx († 1883) existieren vier Gestalten individueller E.: von den Produkten, der Gattung, der Natur u. dem Selbst; sie sind für ihn weder wesensmäßig noch unaufhebbar, sondern Ergebnis des Verkaufs des Menschen u. seiner Produkte an das Kapital, womit ein Mensch sich zum Ding als Ware entäußert. Die Versuche der revolutionären Überwindung der E. durch eine Gesellschaft, in der die Produkte der Arbeit je nach den Bedürfnissen den Arbeitenden direkt zugänglich seien, führte zu neuen Formen der E. In der heute verbreiteten Kritik an der modernen Zivilisation wird ihnen deskriptive Aufmerksamkeit zugewandt (Verlust des Subjektseins unter anonymen Mächten, Industrialisierung, Technisierung, Globalisierung, Bürokratisierung, Umweltzerstörung). Die Religion, die seit L. Feuerbach († 1872) häufig als Ursache der Selbst-E. des Menschen angesehen wurde, erlangt eine gewisse neue Bedeutung im Kampf gegen solche Entfremdungen.
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