Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Dogmatik
   die theol. Disziplin, die sich mit wissenschaftlichen Methoden den Dogmen (Dogma) zuwendet, sich also mit solchen Glaubenswahrheiten befaßt, die sich aus der Offenbarung Gottes erheben lassen u. im Lauf der Glaubensgeschichte zu satzhaften, verbindlichen Glaubensformulierungen geführt haben.   1. Zu Geschichte u. Methode. Eigenständige Disziplin wurde die D. seit Ende des 16. Jh., als die konfessionelle u. innerkirchliche Streitsituation immer mehr nach Zusammenfassungen der verbindlichen kirchlichen Glaubenslehre verlangen ließ. Zunächst war die D. von positivistischer Logik geprägt: Die These wurde dem Dogma bzw. ihm möglichst nahekommenden kirchlichen Lehren entnommen, denen die Aufzählung der gegnerischen Meinungen folgte. Der Beweisgang begann mit den verbindlichen Äußerungen des kirchlichen Lehramts, ging zu Schriftbelegen über, gefolgt von Traditionszeugnissen u. der gedanklichen Durchdringung. Der Aufbau war nach dem ”Apostolischen Glaubensbekenntnis“ gegliedert. Je mehr sich die Theologie bei der gedanklichen Durchdringung mit zeitgenössischen Philosophien u. Mentalitäten auseinandersetzen mußte, umso größer wurde das Bedürfnis, diese ”additive “ Methode zu verlassen, die Thesen in ihrer Entstehung u. in ihren Grenzen zu sehen (Einbeziehung der Dogmengeschichte), sie gegenseitig zu ”vernetzen“ u. ihre Gesamtheit möglichst unter einem einheitlichen Leitgedanken zu sehen. In der aus diesem Bedürfnis entstehenden Systematischen Theologie “ bildet die D. ein Hauptstück. In diesem Entwicklungsgang wurde die kath. D. durch die Neuscholastik (Scholastik) gehemmt, die seit dem 19. Jh. die Lehrbücher der D. bis über die Mitte des 20. Jh. prägte. Die Erneuerung der D. brachte zunächst die mit der Heiligen Schrift gegebene Grundlage aller Dogmen neu zur Geltung, oft unter dem Gedanken der Heilsgeschichte systematisiert, verbunden mit einer gründlichen Einbeziehung der unterschiedlichen Auslegungen (im Zeichen der patristischen Erneuerung). Im Bewußtsein größerer Freiheit konnte die D. kritisch vorgehen u. je nach gegebenen Möglichkeiten die Dogmen an den Ergebnissen der historisch-kritischen Bibelexegese messen sowie ihre begrenzten Aussageabsichten aus der exakten Erforschung der Dogmengeschichte erheben. Die heutige D. ist von stärkeren Bezügen zu Problemen, nicht nur philosophischer Art, der Gegenwart gekennzeichnet. Ihr Bemühen, den Geltungsanspruch der Glaubenslehre auch öffentlich zu rechtfertigen u. nicht nur der Selbstvergewisserung der Kirche zu dienen, nähert die D. heute stärker der Fundamentaltheologie an.
   2. Einteilung der D. Die Berücksichtigung der heilsgeschichtlichen Struktur der Offenbarung Gottes ist nicht einfach überholt. Nach ihr ist dasWesensverhältnis Gottes zur Menschheit in seinem Willen zur Selbstmitteilung u. in seiner unverbrüchlichen Treue zwar immer das gleiche, aber dieses Wesenhafte steht bei aller überzeitlichen Nähe nie in einem immer gleichen Verhältnis zum Kontingenten. Zugleich kann die geschichtlich gehörte Wahrheit von denMenschen nur wirklich innerlich angeeignet werden, wenn die gehörte Offenbarungswahrheit mit dem Ganzen des Selbst- u. Weltverständnisses der Hörenden konfrontiert u. in deren Sprache ”übersetzt“ wird; andernfalls steht die D. in der Gefahr, Antworten auf Fragen zu geben, die niemand im Ernst (mehr) hat. Diese Situation führte zur immer neuen Suche nach dem ”zeitgemäßen“ Aufbau der D. u. zu einem z.T. zwiespältigen Erscheinungsbild von Wesensaussagen u. Bemühungen, existentielles Verstehen zu erreichen. – Die Einzeltraktate, die der Sache nach jedenfalls den wesentlichen Inhalt der D. darstellen, sind in der traditionellen Reihenfolge: Gotteslehre u. Trinitätstheologie, Schöpfungslehre mit Angelologie, Anthropologie, Gnadenlehre, Christologie mit Soteriologie, Mariologie, Pneumatologie, Ekklesiologie, Sakramentenlehre, Eschatologie.
   3. Ein Blick auf nichtkath. D. a) Die D. der orthodoxen Ostkirchen entstand erst spät unter dem Konkurrenzdruck der röm.-kath. u. ev. D. u. hat sich ihnen in Aufbau u. Methode stark angeglichen. In der Gegenwart werden die Unterschiede hervorgehoben: Dogmen sind nicht Lehrformeln u. Satzungen in der Hand einer Lehrautorität. Die D. soll von der Kirche als einziger Quelle der Offenbarung u. vom Glauben als gelebter u. erfahrenerWirklichkeit in der Gemeinschaft des Hl. Geistes ausgehen u. in diesem Rahmen die Schriftzeugnisse, die Kirchenvätertheologie u. spätere Überlieferungen darlegen. Die ”Übersetzung“ in die Sprache der Gegenwart ist erwünscht, wenn sie nicht mit einer rationalistischen Analyse verbunden ist. – b) Die D. der ev. Theologie befaßt sich eingehend mit ihrer Grundlage, dem in der Hl. Schrift gegebenen Wort Gottes u. mit den daraus hervorgehenden wesentlichen, im Glaubensbekenntnis zusammengefaßten Glaubensinhalten, die unter Berücksichtigung der Tradition wissenschaftlich (begründend, methodisch) u. systematisch (auf Ganzheit bedacht) dargelegt u. im Gespräch mit der jeweiligen Gegenwart reflektiert werden. Der wesentliche Unterschied zur D. der nicht-reformatorischen Kirchen besteht darin, daß in der ev. D. dem Lehramt u. der Tradition keine dogmatisch verbindliche Autorität zukommt. So können auch die Bekenntnisschriften in die Kritik einbezogen werden. Inwieweit das Sola-Scriptura -Prinzip durch die historisch-kritische Exegese erschüttert wird, bildet den Gegenstand weiterer Diskussionen (über die Bibel als Buch der vor ihr existierenden kirchlichen Tradition) .
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