Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Dogma
(griech. = das, was als richtig erschienen ist). Der Sprachgebrauch von D. war in der Theologiegeschichte zunächst schwankend.Mit D. konnten in der Kirchenväterzeit die kirchliche Glaubenslehre u. Disziplinarnormen bezeichnet werden, aber auch die Irrlehren der Häretiker. In der späteren Reflexion war eine Glaubensregel des Mönchs Vinzenz von Lérins († vor 450) sehr angesehen: Katholisch (= rechtgläubig) ist, was überall, immer u. von allen geglaubt wurde u. wird (Comm. 2). 1. D. im kath. Verständnis. Der Begriff des D. im engeren Sinn entwickelte sich seit dem 18. Jh. u. wurde vom I. Vaticanum 1870 folgendermaßen formuliert: D. ist innerhalb der kirchlichen Lehre alles das, ”was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist u. von der Kirche in feierlichem Entscheid oder durch gewöhnliche u. allgemeine Lehrverkündigung als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird“. In diesem Zusammenhang erläutern kirchliche Dokumente u. das Kirchenrecht, daß ein solches D mit ”göttlichem u. katholischem Glauben“ anzunehmen ist u. daß seine Leugnung eine Häresie (Bann) ist. Für den formellen Begriff des D. sind also zwei Momente entscheidend: a) die Zugehörigkeit einer bestimmten Lehre zur Offenbarung Gottes im Gegensatz zu frommenMeinungen u. Privatoffenbarungen, u. b) die ausdrückliche u. definitive Vorlage dieser Lehre als einer von Gott geoffenbarten Wahrheit durch die ”Kirche“, d. h. in diesem Fall: durch die ordentliche, universale Lehrverkündigung (Lehramt) oder durch das außerordentliche Lehramt, d. h. durch eine Definition durch ein Konzil zusammen mit dem Papst oder durch den Papst als Spitze des Bischofskollegiums. Da Dogmen immer aus konkreten Anlässen formuliert wurden, sind bei weitem nicht alle zentralen Glaubenswahrheiten in einer Zusammenstellung der Dogmen enthalten. Nach kath. Auffassung kann auch als D. gelten, was nie formell vorgelegt wurde, was jedoch in einer anderen dogmatischen Wahrheit enthalten ist. Ob sich ein D. aus einer geoffenbarten Wahrheit mit Hilfe nicht-geoffenbarter Prämissen logisch ableiten lasse, wird kontrovers diskutiert. Der konkrete, personale u. existentielle Glaube bezieht sich nie auf formelle Dogmen, sondern muß im Zusammenhang mit anderen Erkenntnissen, Intuitionen u. kirchlicher Haltung stehen (Glaubenssinn) . Der kath. Glaube hält daran fest, daß ein D. nicht revidierbar ist, wenn dieser ”Widerruf“ bedeuten würde, daß ein früheres, verbindliches Festhalten an einer Offenbarungswahrheit ein Irrtum gewesen sei.Wenn in der kirchlichen Verkündigung ein bestimmter Glaubensinhalt als Gegenstand einer Offenbarung Gottes vorgelegt wird, dann hätte der Glaube daran keinen Sinn, wenn es grundsätzlich möglich wäre, daß Gott selber bei der Annahme seines Wortes die Glaubenden in die Irre führen würde. In der kirchlichen amtlichen Lehre u. Theologie besteht ein Konsens darüber, daß die Kirche nur durch den wahrnehmenden, formulierenden u. bekennenden Vorgang, der unter Umständen ein D. nötig macht, ihre Identität bewahren kann. In diesem Kontext erkennt die neuere Theologie die nicht nur unterscheidende, sondern auch einheitsstiftende Funktion eines Dogmas u. seine Eigenart als kommunitäre Sprachregelung. Dieser Vorgang ist geschichtlich bedingt (Geschichtlichkeit); seine Sprache ist, wenn sie Gott betrifft, immer analog (Analogie); mit der Vorlage u. mit der Rezeption einer Offenbarungswahrheit Gottes sind konkrete Sprach- u. Verstehensmodelle, unwillkürlich mitlaufende Meinungen u. Perspektiven vermischt. Dogmen können auch von ”frommen“, psychologischen u. gesellschaftlichen Interessen mitbedingt sein. Dieser Umstand kann das Verständnis eines Dogmas bis hin zur Nichtannahme erschweren. Durch die epochalen Veränderungen der Denk- u. Verstehensstrukturen ist es möglich, daß ein D. ”heute“ nicht mehr verstanden wird, unter Umständen nicht einmal mehr durch Interpretation neu aktualisierbar ist, so daß es einfach vergessen wird (auch wenn es im ”kulturellen Gedächtnis“ der Kirche aufbewahrt bleibt). Alle diese Komponenten, die erkennen lassen, daß ein D. geschichtlich ist, bedeuten nicht, daß es auf einen Irrtum der lehrenden u. hörenden Kirche zurückgeht. Ein D. ist nicht ein Satz abstrakterWahrheit, sondern ”Heilswahrheit“, Wahrheit um des Heils der Menschen willen (II. Vaticanum DV 11 ; vgl. GS 28 ); da diese nie abschließend erfaßt werden kann, sondern in die Zukunft des Geheimnisses Gottes hinein verweist, ist auch ein D. auf ein neues Verständnis in der Zukunft hin offen. Schließlich haben nicht alle Dogmen den gleichen Rang; es existiert eine Hierarchie der Wahrheiten “ (II. Vaticanum UR 11 f .).
2. Ein Blick auf das Verständnis von D. in nichtkath. Kirchen. a) In einer mehr ”positivistischen“ Auffassung wird in den orthodoxen Ostkirchen gesagt, daß nur die Dogmen der ersten sieben Konzilien (die in Ost u. West Geltung haben) unwiderrufliche Zustimmung verlangen. Die Dogmenbildung wäre demnach mit dem II. Konzil von Nikaia 787 beendet. Die orthodoxe Theologie besteht darauf, daß Glaube u. Leben sich aus einem kirchlichen Konsens ergeben müssen, der auf Ökumenischen Konzilien vom Hl. Geist bewirkt u. im Lobpreis der Liturgie aktualisiert wird. Auch nach der neueren orthodoxen Theologie sind dogmatische Erklärungen von Konzilien zum Schutz der Wahrheit vor Irrtümern grundsätzlich möglich; Wahrheit wird aber nicht als satzhaft formulierbar, sondern als pneumatisch-ekklesial ”lebbar“ verstanden. – b) Nach M. Luther († 1546) u. der lutherischen Theologie, ähnlich J. Calvin († 1564) existieren kirchliche Dogmen, die jedoch nur insofern Geltung haben, als sie vom Wort Gottes, besonders hinsichtlich der Rechtfertigung, durchdrungen sind u. den Glauben an dieses Wort zum Ausdruck bringen; in diesem Sinn sind sie zustimmende u. bekennende, aber grundsätzlich revidierbare Worte der Kirche (”relative Autorität“) u. Zeugnisse der Vergangenheit.
2. Ein Blick auf das Verständnis von D. in nichtkath. Kirchen. a) In einer mehr ”positivistischen“ Auffassung wird in den orthodoxen Ostkirchen gesagt, daß nur die Dogmen der ersten sieben Konzilien (die in Ost u. West Geltung haben) unwiderrufliche Zustimmung verlangen. Die Dogmenbildung wäre demnach mit dem II. Konzil von Nikaia 787 beendet. Die orthodoxe Theologie besteht darauf, daß Glaube u. Leben sich aus einem kirchlichen Konsens ergeben müssen, der auf Ökumenischen Konzilien vom Hl. Geist bewirkt u. im Lobpreis der Liturgie aktualisiert wird. Auch nach der neueren orthodoxen Theologie sind dogmatische Erklärungen von Konzilien zum Schutz der Wahrheit vor Irrtümern grundsätzlich möglich; Wahrheit wird aber nicht als satzhaft formulierbar, sondern als pneumatisch-ekklesial ”lebbar“ verstanden. – b) Nach M. Luther († 1546) u. der lutherischen Theologie, ähnlich J. Calvin († 1564) existieren kirchliche Dogmen, die jedoch nur insofern Geltung haben, als sie vom Wort Gottes, besonders hinsichtlich der Rechtfertigung, durchdrungen sind u. den Glauben an dieses Wort zum Ausdruck bringen; in diesem Sinn sind sie zustimmende u. bekennende, aber grundsätzlich revidierbare Worte der Kirche (”relative Autorität“) u. Zeugnisse der Vergangenheit.