Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Begierde
, Begierlichkeit (lat. ”concupiscentia“, griech. ”epithymia“), Triebregungen, die der menschlichen Freiheit vorausliegen, von Freiheitsentscheidungen nicht völlig kontrolliert u. gesteuert werden können u. nur auf einen partiellenWert für denMenschen hingeordnet sind. Ist die B. auf ein Teil-Gut gerichtet, dessen Bejahung Sünde wäre, so spricht die Theologie von ”böser B.“ Die B. gehört zu dem Komplex ganzheitlicher Unordnung, in dem sich jeder Mensch ”vorfindet“. Er wird im AT vielfältig umschrieben (Weisheitsliteratur u. Rabbinen sprechen vom ”bösen Trieb“). Paulus wendet ihm Röm 7, 7–25 große Aufmerksamkeit zu. Die Selbstentzweiung des Menschen ist in einem täglichen Wettkampf zu überwinden (1 Kor 9, 24–27); der Sieg gelingt erst in der endgültigen Erlösung. Bei der theol. Reflexion in der Kirchenväterzeit spielte die negative Bewertung der menschlichen Sinnlichkeit in der griech. Philosophie eine große Rolle (Affekt, Apathie). Nach der Antiochenischen Theologenschule stammt die Unordnung des sinnlichen Bereichs von Gott dem Schöpfer, der die Herbeiführung der Ordnung u. Beherrschung u. damit die gottgemäße Gestaltung der Welt den Menschen als Aufgabe gestellt habe (ähnlich später Thomas von Aquin † 1274). Nach der Alexandrinischen Theologenschule kennt der gut geschaffene, auf das Wahre u. Gute hinorientierte Mensch keine sinnliche B.; erst wenn der menschliche Geist sich von Gott abkehrt, kommt das sinnliche Begehren in ihm auf, so daß es, engstens mit der Sünde verbunden, als Äußerung der menschlichen Sündhaftigkeit verstanden werden muß. Augustinus († 430), der Vater der Theorie der Erbsünde, identifizierte auf dieser Basis die B. material mit dem Schuldcharakter der Erbsünde; seine Sicht trug wesentlich zur Abwertung der Sinnlichkeit in der christlichen Mentalität u. Theologie bei u. beeinflußte, verbunden mit den persönlichen Erfahrungen M. Luthers († 1546), die reformatorische Auffassung der B. Dem hielt die Lehre des Konzils von Trient entgegen, daß die B. nicht mit der Sünde identisch ist, so daß sie auch noch im gerechtfertigten Menschen existiert (Röm 1, 14 u. ö.), u. zwar nicht in seinem Leib allein ihren Sitz hat (Sarx). Nach dieser kirchlichen Lehre ist die B. etwas Natürliches, aber im Vergleich mit dem von Gott ursprünglich gewollten Zustand des Menschen u. besonders in der Art, wie ihr Einwirken erfahren wird, ein Mangel an Entscheidungskraft, der eine Folge der Erbsünde u. ein Anreiz zu persönlicher Sünde, aber dank der Gnade Gottes überwindbar sei. Die Theologie der Konkupiszenz bei K. Rahner († 1984) hat in neuester Zeit positive Aufmerksamkeit gefunden. In Ablehnung der augustinischen Auffassung u. der Lehre in der kath. Theologie in der Interpretation des Konzils von Trient, daß die B. eine von Gott juridisch verhängte Straffolge der Erbsünde, in sich aber ”natürlich“, auch beim konkreten Menschen etwas Selbstverständliches sei, besagt die Theorie Rahners: Die B. ist eine noch nicht böse, natürliche Triebhaftigkeit des Menschen, steht aber, wenn ein Mensch noch nicht personal zu ihr Stellung genommen hat, im Widerspruch zum übernatürlichen Existential. Dadurch ist sie eine wirkliche Manifestation der Schuld. Die Entscheidung für das Gute u. die Abkehr vom Bösen kann der Mensch in personaler Selbstverfügung jedoch nur gebrochen realisieren; er erfährt sich in bleibender Entzweiung (aber nicht im Sinn des prinzipiellen Dualismus). Im gerechtfertigten Menschen prägt die B. jene Situation, in der der Glaubende aktiv den Tod annehmen u. dadurch die B. überwinden soll (Askese), ohne die sinnlichen Regungen abwertend zu unterdrücken. – Durch die B. ist nicht nur die individuelle Situation bestimmt; sie kennzeichnet auch gesellschaftliche Zustände zutiefst u. führt den Zustand ”struktureller Sünde“ in Eigennutz u. Ausbeutung mit herbei. Freiheit u. Gerechtigkeit werden als noch ausständig erfahren u. durch nicht notwendige gesellschaftliche Strukturen verhindert. Gegen diese konkupiszente Situation kämpft die Befreiungstheologie .