Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Armut
   ist im Judentum u. im Christentum ein wichtiges Thema. Individuelle A. konnte u. kann in Gesellschaften des Nahen Ostens oft vom Familienverband aufgefangen werden. Schon in vorexilischer Zeit entstanden in Israel jedoch Unterschichten u. Randgruppen, die an Mängeln u. Entbehrungen litten, durch Schulden gedrückt waren usw. Zu ihren Gunsten erhoben vor allem die Propheten ihre Stimme; ein Armenrecht wurde ausgebildet. Der theol. Leitgedanke war dabei die Überzeugung, daß der Schöpfergott allen Menschen gleichen Anteil an den Gütern der Erde geben wollte. Gerade die Erfahrung einer massenhaft verbreiteten A. u. Verelendung wird in der Spätzeit Israels zur Ablehnung des Tun-Ergehens-Zusammenhangs, den die Theorie der Weisheit gelehrt hat, geführt haben. In Psalmen wird auf die Verantwortung JHWHs für die Armen hingewiesen. Nach der Unterdrückung ganz Israels in hellenistischer Zeit wird ”arm“ zu einem religiösen Begriff im Sinn von ”demütig“ u. ”fromm“, ja sogar im Sinn von ”auserwählt“. Die Gemeinschaft von Qumran (”Gemeinde der Armen“) scheint im Vertrauen auf späteren Lohn durch Gott in der Endzeit freiwillig auf Besitz verzichtet zu haben. Die Armen, die Jesus selig pries, denen er das Reich Gottes versprach (Lk 6, 20) u. zu denen er sich in besonderer Weise gesandt wußte (Lk 7, 22), waren die real Armen, Kleinen u. Unterdrückten. Die matthäische Version der Seligpreisung meint mit den ”Armen im Geist“ die auf Gott Hoffenden (Mt 5, 3). Reichtum wird von Jesus wie von der Urgemeinde durchwegs als Gefahr u. als Hindernis für die Nachfolge Jesu gesehen, deren Radikalität in der Forderung zum Ausdruck kommt, allen Besitz den Armen zu geben (Mk 10, 21; Lk 18, 22). Die ”Werke“ aus dem Glauben, die Jak 2, 14–26 fordert, gelten vorzugsweise Schwestern u. Brüdern, die Mangel leiden; 2, 6 wird vor der Verachtung der Armen gewarnt; 5, 1–6 enthält drastische Drohungen gegen die Reichen. – In der Kirche galt A. immer als Gegenstand eines Evangelischen Rates zur besonderen Nachfolge Jesu Christi, wie die andern evangelischen Räte heute besonders durch den Hinweischarakter auf die Andersartigkeit des ausstehenden u. erhofften Reiches Gottes begründet. Die Verwirklichung dieser A. in den Ordensgemeinschaften hat ihre besondere Problematik (Besitz der Gemeinschaft, Entbehrung des zur Wahrung der Menschenwürde Notwendigen bei einzelnen Mitgliedern; krasse Ungleichheiten gegenüber dem ”Weltklerus“ usw.). Helfen u. Teilen angesichts konkreter begegnender A. sind kein bloßer ”Rat“ für Vollkommene, sondern ein Gebot der Nächstenliebe. Als Bestandteil christlicher Askese kann A. durch diese konkrete Liebe, aber auch durch Selbstliebe (Freiheit von Abhängigkeit) motiviert sein. Im Zusammenhang mit der Erneuerungsbewegung der Kirche, die zum II. Vaticanum u. zum Bewußtwerden der Probleme nicht-europäischer Kontinente führte, entstand die Forderung, die Kirche müsse eine ”Option für die Armen“ treffen, nicht nur durch Organisation solidarischer Hilfe (die von allen großen Kirchen praktiziert wird), sondern auch durch prophetische Anprangerung schreienden Unrechts. Die letztere Aufgabe, von der Befreiungstheologie in Angriff genommen, wurde durch religiös-praktische Beschwichtigungsversuche (unter Beibehaltung verbaler Appelle) unterlaufen, die der früheren kirchlichen Vertröstung, A. sei gottgewolltes Schicksal u. in Ergebenheit zu ertragen, bedenklich nahekommen. Die Analysen der globalen A. durch heutige Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften zeigen eine anwachsende Zunahme der ”absoluten A.“ in sog. Entwicklungsländern sowie der ”neuen A.“ auch in Industrieländern vor allem infolge der Massenarbeitslosigkeit. Ursachen u. Verursacher sind deutlich erkennbar, doch Macht, Mittel u. Kompetenzen zur effektiven Behebung dieser sehr komplexen Armutssituation sind nicht in Sicht.
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