Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Anthropologie
(griech. = die Lehre vom Menschen) heißt der reflexe Versuch des Menschen, sich selber zum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung zu machen u. zu Darstellungen seines Selbstverständnisses zu gelangen. ”Vorwissenschaftlich“ gab es immer schon Äußerungen des Interesses des Menschen an sich selber. Aber erst in der Neuzeit kommen Ansätze zu einer im modernen Sinn wissenschaftlichen A. auf; der Begriff A. begegnet erstmals Ende des 16. Jh. Das Selbstverständnis des Menschen kann von unterschiedlichen methodischen Zugängen aus reflektiert werden: Ein Zugang kann philosophisch-”apriorisch“ angebahnt werden, so wie das I. Kant († 1804) in der Transzendentalphilosophie von der Frage ”Was ist der Mensch?“ aus unternahm. Die Suche nach einem ”Wesen“ des Menschen ist nicht einfach abgetan; es ist nicht einsichtig, wie die Ethik (Menschenwürde, Menschenrechte) auf sie verzichten könnte. Die religiös-theol. Frage nach dem Menschen kann ihren Ausgang bei einer Offenbarung Gottes nehmen. Der Mensch kann aber auch Gegenstand ”aposteriorischer“ einzelwissenschaftlicher Untersuchungen sein, die durchaus legitim auf die Wesensfrage verzichten u. statt dessen von der Vielheit der menschlichen Erscheinungsweisen ausgehen; so entstanden vielfältige Anthropologien (medizinische, biologische, psychologische, soziologische usw.). Die theologische A. kann insofern als ”aposteriorisch “ erscheinen, als sie die Aussagen der Glaubensbotschaft über den Menschen voraussetzt. Sie unterscheidet sich von den genannten aposteriorischen Anthropologien jedoch dadurch, daß die Deutung des Menschen in ”von außen“ kommender, geschichtlich kontingenter Form vorgelegt wird u. dennoch die grundlegende u. entscheidende Interpretation des Menschen ist, also sein ”Wesen“ bestimmt. In theol. Sicht kann es eine ”reine“ apriorische Erkenntnisform nicht geben. Von seinemWesen her ist der Mensch auf das geschichtlich Aposteriorische verwiesen; er ”hat“ sich in jeder Reflexion nur als den Bedingten u. geschichtlich Konkreten, darin aber ”hat er“ sich selbst (Person, Subjekt).Wenn von theologischer A. die Rede ist, dann handelt es sich nicht um ein geschlossenes Lehrstück (Traktat) der theol. Systematik.Was die Offenbarung Gottes über denMenschen sagt u. wie das Selbstverständnis des Menschen dem in der Offenbarung Gehörten korrespondiert, das ist z.T. auf die einzelnen theol.Wissenschaften (z. B. A. des AT , des NT ), vor allem aber auf die Dogmatik verteilt. Hier können nur noch einzelne, besonders herausragende ”Orte“ u. Zusammenhänge der theol. A. angegeben werden (Grundlegendes bei Mensch): a) Die Zeugnisse der biblischen Offenbarung erheben den Anspruch, den Menschen allein zur vollen Erkenntnis seines eigentlichen, konkreten Wesens zu bringen: als Subjekt, Person, Empfänger der Selbstmitteilung Gottes, Partner Gottes. Die genaue Untersuchung dieser biblischen Aussagen ist nicht allein Sache der Bibelwissenschaften. – b) Die Bestimmung des Menschen zum Empfänger der Selbstmitteilung u. zum Partner Gottes läßt das Geschaffensein (die Kreatürlichkeit) als erste u. umfassende Bestimmung des Menschen erscheinen. Sie wird in der Schöpfungslehre thematisiert. – c) Die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen kann unterschieden werden in die Selbstoffenbarung im Wort, in die Schaffung der Voraussetzungen, die gewährleisten, daß die Freiheit des Menschen gewahrt bleibt, in die Aufnahme der Selbsterschließung Gottes in Liebe u. Gnade, in der Vollendung dieser Selbstmitteilung in der Anschauung Gottes. Die entsprechenden Anteile der theol. Anthropologie kommen in Fundamentaltheologie, Gnadentheologie u. Eschatologie zur Sprache. – d) Das Sollen des Menschen unter dem Anspruch der Offenbarung Gottes u. im Licht seines Selbstverständnisses, u. zwar als ein individuelles Sollen u. als eingebunden in die Gemeinschaft, wird in der Moraltheologie (theol. Ethik) thematisiert; es handelt sich um wesentliche Aspekte einer theol. A. – e) Eine besondere Schlüsselfunktion für die theol. A. nimmt die Christologie ein, denn Mensch ”ist genau das, was Gott selber (Gott bleibend) wird, wenn er sich selbst entäußert in die Dimension des Anderen seiner selbst, des Nichtgöttlichen“ (K. Rahner). So erscheint die Christologie als die radikalste Gestalt einer theol. A.