Herbert Vorgrimler. Neues Theologisches Wörterbuch
Anschauung Gottes
(”visio beatifica“, beseligende Gottesschau) ist in der klassischen Theologie die Bezeichnung für die vollendete u. vollkommene Gottesbeziehung der geistig-personalen Kreatur. Die Bezeichnung umfaßt nicht alles, was von der verheißenen Vollendung zu erhoffen ist: Sie spricht nicht über die Seligkeit des Leibes, die den Menschen in der Auferwekkung der Toten mit verheißen ist; sie meint zunächst nur Individuen, nicht die Einheit aller erlösten u. vollendeten Kreaturen (Himmel, Gemeinschaft der Heiligen ); sie betrifft nicht die nicht-geistigen, nicht-personalen Kreaturen, die in der Vollendung der Schöpfung bei Gott, ihrem Ur- sprung u. Ziel, mit-aufgehoben sein werden. – Trotz dieser Beschränkung ist eine solche Bezeichnung sinnvoll, weil die Beschreibungen der Vollendung der Kreaturen in den Offenbarungszeugnissen primär geistig-personale Geschöpfe meinen: Das Schauen Gottes von Angesicht zu Angesicht, das Erkennen Gottes wie er ist, ohne Spiegel u. Gleichnis, das Schauen durch das reine Herz, das Schauen statt Hoffen (Mt 5, 8; 1 Kor 1, 12; 1 Joh , 2 u. ö.). Freilich darf das seligmachende Geschehen nicht einseitig vom Intellekt verstanden werden; das verbieten auch die biblischenWorte ”Erkennen“ u. ”Herz“. Die kirchenamtliche verbindliche Lehre besagt, daß den Seelen der Vollendeten nach Tod u. Läuterung schon ”vor“ der Auferweckung des Leibes die intuitive Schau derWesenheit Gottes gewährt werde, u. zwar ohne Vermittlung durch ein (als vermittelnder Erkenntnisgegenstand wirkendes) Geschöpf. Indirekt wird gelehrt, daß Gott auch in der Vollendung unbegreiflich bleibt. Abgelehnt ist die Ansicht, jede geistige Natur sei in sich selber natürlicherweise selig, u. die Seele bedürfe zur Gottesschau des ”Glorienlichts“ nicht. Hier bleiben noch Einseitigkeiten auszugleichen: Mit geistiger Erkenntnis oder intuitiverWesensschau ist noch nicht einmal die geistige Seite der Vollendung ganz ausgesprochen; die Tradition sprach nicht nur von einem Erkennen, sondern auch von einem Genießen Gottes. Die Zeitdifferenz zwischen der Vollendung desMenschen in seiner geistig-personalen u. der in seiner leiblichen Dimension ist unerheblich; Gottes Verheißungen gelten dem ganzen Menschen. Die bleibende, unüberbietbare Erfahrung der Nähe Gottes muß trinitarisch sein: Sie gründet ja in der schon jetzt im irdischen Leben geschehenden Mitteilung des göttlichen Geistes u. in der Gleichgestaltung mit Jesus Christus u. bedeutet Einbeziehung in die Herrlichkeit Gottes des Vaters. – K. Rahner († 1984) vertiefte die erkenntnismäßige Seite der amtlichen u. herkömmlichen Lehre von der Theologie der Gnade her: Erkenntnis ist nicht ein intentionales Sich-Ausstrecken oder ein Ausgehen des Erkennenden aus sich selber, hin auf einen Erkenntnisgegenstand, so daß der Erkennende durch den Erkenntnisprozeß eins würde mit dem Erkannten. Vielmehr ist erst dadurch, daß die beiden eins sind u. der Erkennende innerlich erhellt wird, Erkenntnis möglich. Dieses Einswerden geschieht durch die freie Selbstmitteilung Gottes an seine Kreatur. Das geistig-personale Geschöpf ist ”an sich“ nur unbegrenzt offen auf Sein, Wahrheit u.Wert hin (Natur), die vollendende Erfüllung dieser Offenheit schuldet Gott der Kreatur jedoch nicht, auch unabhängig von einer eventuellen Sünde. Verheißung der A. G. u. faktische Hinordnung auf sie sind das Wunder seiner radikalen Liebe (die freilich im nachhinein enthüllt, was von Gott ”immer schon“ als Sinn des Menschen u. als Ziel der Geschichte gedacht u. gewollt war). Beim Einswerden Gottes mit seiner Kreatur durch seine Selbstmitteilung wirkt er so auf den kreatürlichen Geist ein, daß Gottes Sein schließlich in der A. G. zurWirklichkeit des Geistes als des erkennenden Geistes wird u. diesen so schöpferisch verändert. Diese Auffassung des Erkennens durch Einswerden schützt Rahner dadurch vor Mißverständnissen (als werde die Kreatur zu Gott gemacht), daß er das neue Verhältnis Gottes zum Geschöpf unter der Kategorie ”quasi formaler “ Ursächlichkeit sieht: Die Kreatur wird in den souverän bleibenden Grund hineingenommen. Diese Anschauung als Erkenntnis infolge des Einswerdens bedeutet, daß Gottes Unbegreiflichkeit in ihrer Unendlichkeit als bleibendes radikales Geheimnis geschaut wird u. so den Erkennend- Schauenden selig macht. – Diese Auffassung wahrt die Unmittelbarkeit der Gottesschau. Sie leugnet nicht, daß eine geschaffene Gnade, das ”Glorienlicht“ (”lumen gloriae“), als Disposition dem Einswerden vorausgehen muß. – Die klassische Christologie zog aus dem Dogma von der Hypostatischen Union die Schlußfolgerung, daß die menschliche Seele Jesu von Anfang ihrer geschaffenen Existenz an in der unmittelbaren A. G. lebte. Wenn das so verstanden wird, daß Jesu Seele immer u. uneingeschränkt an das unbegreifliche Geheimnis Gottes übereignet war, dann muß das weder bedeuten, daß dieses restlose Verfügtsein an Gott Jesus in jedem einzelnen Moment bewußt war, noch daß es ihn in jeder Hinsicht selig machte. Echtes Kindsein Jesu, Lernen, Nichtwissen, Glaubensdunkel usw. sind damit so wenig ausgeschlossen wie wirkliches Leiden u. Todesangst.