Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
ziehen
ahd. ziohan, gemeingermanisches starkes Verb (got. tiuhan, altengl. teon; urverwandt lat. ducere), mit altem Wechsel von -h- und -g- (vgl. "gedeihen" – ↑ "gediegen"). Zu den Formen du zeuchst, er zeucht, zeuch vgl. ↑ "bieten". Im Deutschen verwandt ⇑ "Zaum", "Zeug", "zeugen", "zögern", "Zögling", "Zucht", "zucken", "zücken", "Zug", "Zügel", "Herzog";1 ursprünglich transitiv; wir stellen hierher auch solche Verwendungen, bei denen es zwar kein Akkusativ-Objekt neben sich hat, die aber aus dem transitiven Gebrauch hervorgegangen sind, wie dies die Umschreibung des Perfekts mit haben (siehe dagegen [3]) zeigt: das Pferd zieht den Wagen; einen Vorhang in die Höhe, einen Schleier vor das Gesicht, ein Schiff ans Land, einen Menschen aus dem Wasser, Pflanzen aus der Erde, ein Messer aus der Tasche, den Kopf aus der Schlinge ziehen; den Degen ziehen (wofür auch bloß ziehen, vom Leder ziehen), den Beutel, die Glocke, den Hut, ein Los (eine Niete, den kürzeren, ↑ "kurz"), die Dame, den König (im Spiel), einen Zahn ziehen; die Sonne zieht Wasser; jmdn. bei den Haaren, am Rock ziehen; Saiten auf ein Instrument ziehen; einen Mantel über das Kleid ziehen;"S234" Wein auf Flaschen ziehen; die Stirn in Falten ziehen; mit prädikativem Adjektiv: lang, straff, schief ziehen (übertragen langgezogene Töne); bildhafte Verbindungen: in den Staub, Schmutz, zu sich empor, sich auf den Hals ziehen. Ohne Objekt: an einem Seil, einer Glocke ziehen; mit dem König ziehen (im Spiel); veraltet an den Rudern ziehen (Luther); Wasser zieht (auf Tee gegossen), auch der Tee zieht; ein Pflaster, ein Hieb ziehtschmerzt‹; unpersönlich: es ziehtes gibt Zugluft‹,
es zieht wie Hechtsuppesehr‹: Aus dem Rohrpostschacht… zog es wie Hechtsuppe (B.A254 Botho Strauß, Paare 40). Übertragen, wenn keine mechanische Gewalt angewendet wird oder wenigstens keine solche, die man als ziehenim eigentlichen Sinn bezeichnen kann: er hat Kolonisten ins Land gezogen; sie zieht die übrigen nach sich; jmdn. vor Gericht, zur Rechenschaft, zur Verantwortung, zu Rate, ins Vertrauen ziehen; Leute an sich ziehen (↑ "anziehen"); sich zu jmdm. hingezogen fühlen; ein Schauspiel usw. zieht (nicht mehr); es zieht mich nach Hause; die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; die Wurzel aus einer Zahl ziehen; Nutzen, Vorteil, Gewinn, eine Lehre, Schlüsse, Folgerungen aus etwas ziehen, die Summe ziehen, veraltet eine Rechnung ziehen (Goethe, Briefe); einen Wechsel ziehen; etwas ins Lächerliche, Komische ziehen; und ziehen die Gnade unseres Gottes auf Mutwillen (Luther); auf etwas ziehen früher wie ↑ "beziehen": auf die erste Art kann der Ausspruch schwerlich gezogen werden (Lessing), doch zog ich's auf mich nicht(Goethe), wir zogen's auf den Türken (Schiller); ⇓ "S073" in festen Fügungen mit abstrakten Substantiven: etwas in Betracht, Erwägung, Zweifel, Mitleidenschaft ziehen; Begebenheiten, die so leicht in großen Mißbrauch gezogen werden könnten (Wieland); dieses Werk in unsern Nutzen zu ziehen(Goethe); jmdn. (sich) aus der Klemme, Patsche (eigentlich noch sinnlich), der Verlegenheit, einer Sache ziehen. Noch ausgedehnter ist übertragene Verwendung in den Zusammensetzungen (s. unten). Mit einem Akkusativ des Resultates verbunden in Draht, Röhren, Lichter ziehen; ferner mit anderer Verwendungsart in einen Strich, eine Linie, einen Kreis, eine Furche, ein Gleis, einen Graben, eine Wand/ Mauer/ Grenze ziehen, übertragen die Direktion… dem Taschengelde enge Grenzen zog (A199 Robert Musil, Törleß 52); daran schließen sich an einen Vergleich, eine Parallele ziehen; auch gezogene [›auf der Innenseite des Laufs mit Zügen versehene‹] Geschütze. Schon althochdeutsch auf die Ernährung und Pflege von Pflanzen und Tieren bezogen: Blumen aus Samen, Stecklingen ziehen; zu derselbigen Zeit wird ein Mann einen Haufen Kühe und zwo Herden ziehen (Luther); allgemein großziehen, ↑ "aufziehen". In bezug auf Menschen, auch auf gewisse Tiere bezeichnet es dann weiter die Beeinflussung der Gewöhnung und die Ausbildung der Fähigkeiten: man muß ihn besser ziehen; er ist schwer zu ziehen; frei: Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, hinaufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister (A200 Friedrich Nietzsche, Zarathustra 297); in bezug auf Kinder eher ↑ "erziehen"; ↑ "ungezogen" adjektivisch, synonym ↑ "unartig";
2 reflexiv mit intransitivem Sinn: Truppenmassen ziehen sich westwärts; ein Gewitter zieht sich nach Osten; ein Wall, ein Graben zieht sich um die Stadt; die Grenze zieht sich von da ostwärts; die Straße zieht sich um den Berg herum; der Weg (danach auch der Prozeß, die Verhandlung, der Film, die Arbeit am Wörterbuch) zieht sich in die Länge;
3 intransitiv, Perfekt mit sein; häufig auf Fortbewegung von Massen bezogen: das Heer zieht vor die Stadt; die Schwalben ziehen nach Süden. Auf leblose Gegenstände bezogen auch von einzelnen: eine Wolke zog über uns hin; ein Schmerz zieht mir durch den Körper, ein Gedanke durch den Kopf. Seltener von einem einzelnen lebenden Wesen: kommt der Schütz gezogen (A222 Friedrich Schiller, Tell 3,1). Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen ziehen speziell das Aufbrechen von dem bisherigen Aufenthalt bezeichnet, wobei es allgemein auch auf den einzelnen bezogen wird: in die Fremde, heimwärts ziehen; laß mich ziehen; daran anschließend ›die Wohnung wechseln‹: er zieht nach Berlin. Vgl. ⇑ "heranziehen", "hinzuziehen", "abziehen", "anziehen", "aufziehen", "ausziehen", "beziehen", "durchziehen", "einziehen", "entziehen", "erziehen", "hinterziehen", "überziehen", "umziehen", "unterziehen", "verziehen", "vollziehen", "vorziehen", "zuziehen".
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