Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
wild
ahd. wildi, mhd. wilde (in literarischer Sprache auch noch neuhochdeutsch), gemeingermanisch (got. wilþeis, engl. wild);1.1 bezeichnet das im rohen Naturzustand Befindliche, von der menschlichen Natur nicht Berührte, bezogen auf Tiere wildes Schwein, Wildschwein, Gegensatz ↑ "zahm": wie Pferde, die wieder wild geworden sind nach Jahrzehnten der Zähmung (Th.A012 Thomas Bernhard, Frost 231); auf Pflanzen wilde Rosen, wild wachsen, Wilde Erdbeeren (Film von I.Bergmann 1957); auf unbearbeitete Bodenflächen. Als Beiwort einer Landschaft, die dann als Wildnis (s. unten) bezeichnet werden kann, bezieht sich wildvornehmlich auf den Eindruck, den sie auf das Gemüt macht; er kann unangenehm, mit Furcht verbunden sein, aber auch von Lustgefühl begleitet (wildromantisch, um 1802 Seume);
1.2 Bezeichnung für dem rohen Naturzustand häufig anhaftende Eigenschaften, daher ›ungebändigt, zügellosein wilder Knabe, wilde Hummel ↑ "Hummel", wilde Phantasie; Gegensatz ↑ "sanft": wilde Triebe, Leidenschaften, wildes Leben; auch in bezug auf Naturgegenstände und -vorgänge: wilder Strom, wildes Wetter; auch von einem vorübergehenden Zustand: ein Pferd wird wildscheut‹; auf Menschen bezogen ›zornig‹, Zusammensetzung "fuchsteufelswild" (16. Jahrhundert), wobei allerdings wahrscheinlich ursprünglich der Gegensatz zu "zahm" zugrunde liegt (O.Hauschild, in: L360 ZDW11,299ff.); umgangssprachlich
⊚⊚ wild (›versessen‹) auf jmdn. / etwas sein (L320 Trübner); wild (›fest‹) entschlossen; abgeblaßt das ist nicht/ halb so wildnicht schlimm‹;
1.3 Gestalten des Volksglaubens werden als wilder Mann, wildes Weib bezeichnet, weil sie außerhalb des menschlichen Kulturkreises lebend gedacht werden;
1.4 in der neueren Sprache werden nach europäischen Vorstellungen unzivilisierte Völkerschaften wild genannt, daher substantivisch der Wilde (17. Jahrhundert; L059 DWb);
2 seit dem Frühneuhochdeutschen ›nicht einer vorgegebenen Ordnung entsprechend‹, zunächst kaufmannssprachlich mennigerleye wilden legheren [Lager] (1442; L059 DWb); ⇓ "S211" studentensprachlich ›wer keiner Verbindung angehört‹ (1809; L320 Trübner), dafür auch wilder Student; in der parlamentarischen Sprache ›Abgeordneter, der keiner Fraktion angehört‹; wilde Ehe (Ende des 18. Jahrhunderts, heute veraltend) ›nicht nach den gesellschaftlich vorgegebenen Regeln zusammenlebend‹ (L181 Otto Ladendorf 343); oft auch ›unkontrolliert, offiziell nicht gestattet‹, wilde Streiksvon der Gewerkschaft nicht beschlossen, anerkannt‹ (L320 Trübner).
Wildbachreißender Gebirgsbach‹ (1813; L059 DWb);
Wildbad (1349/ 50; ebenda), eigentlich ›ein Bad, das von der Natur dargeboten, nicht künstlich zurechtgemacht zu werden braucht, in einer von Natur warmen Quelle‹. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts (ebenda) v. a. »eine badeanstalt für warme bäder, auch wenn das wasser nicht aus einer warmen quelle herkommt« (ebenda);
wildfremd (zuerst substantivisch 1592; ebenda): etwas Wildfremdes, das uns nichts angeht (A075 Johann Wolfgang von Goethe, I 49,2,68);
Wildheit (L317 Teuthonista 1477), der Bedeutungsentwicklung von wildfolgend; übertragen allein die härte und wildheit der hochdeutschen sprache war es auch, die ihr ein frischeres leben und steigende kraft sicherte (J.Grimm; L059 DWb);
Wildling (1580; ebenda);
1noch nicht veredelter Baum oder Strauch‹; seit dem 17. Jahrhundert ⇓ "S027"
2wilder Mensch‹, zunächst ›roher, gewalttätiger Mensch‹ (1655; ebenda), neuer ›verwildeter, ungesitteter Mensch‹ (Pestalozzi; ebenda); auch positiv gedeutet »derbes, urwüchsiges, unverfälschtes naturkind« (Droste-Hülshoff; ebenda); speziell ›uneheliches Kind‹ (1781–84; ebenda): das wäre der erste Wildling, der eine dauerhafte Mutterliebe genösse (L. v.François);
3 vereinzelt literarisch ›heimatloser Mensch‹: du armer, irrender wildling (1812 Fouqué; L059 DWb);
4wildes, unbändiges, noch nicht gezähmtes Tier‹ (19. Jahrhundert; ebenda);
Wildnis mhd. wiltnisse, wiltnis u.ä.; schließt sich an die Bedeutungen von wild an, daher anfangs nicht ausschließlich auf eine Gegend bezogen, sondern allgemein ›Wildheit, etwas Wildes‹ bis Ende des 18. Jahrhunderts: diese wildnis der sitten erstreckte sich… auf das ganze volk (Moser; L059 DWb); daneben in der heutigen Bedeutung ›nicht bebautes Gebiet‹, Nebenform (v. a. literarisch) Wildernis (L040 Lorenz Diefenbach 202a wildernisse), noch bei A075 Johann Wolfgang von Goethe: zur Einsamkeit, zur Wildernis entweichen (Faust II,6236).
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